Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Jan C. Behrends

 

Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (eds.) Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Com­pared.  Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2009. IX, 536 S. ISBN: 978-0-521-89796-9.

Die vergleichende Forschung zu Stalinismus und Nationalsozialismus wird durch den vorliegenden Band hervorragend dokumentiert und entscheidend vorangebracht. Den Chicagoer Her­ausgebern ist es gelungen, Experten beider Forschungsfelder – es handelt sich primär um deutsche und amerikanische Wissenschaftler – zusammenzubringen. Die Beiträge sind jeweils von einem Autorenduo verfasst, wobei in der Regel ein Experte für sowjetische mit einem Kenner der deutschen Geschichte zusammengearbeitet hat. Den neun Aufsätzen ist eine von Michael Geyer unter Mitwirkung von Sheila Fitz­patrick verfasste Einleitung vorangestellt. Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert: Governance, Gewalt, Sozialisierung und Verknüpfungen (entanglement). An seinem Ende befindet sich eine umfangreiche, thematisch gegliederte Bibliographie. Es ist den Herausgebern gelungen, beide Diktaturen systematisch zu vergleichen und die Diskussion über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus auf ein neues Fundament zu stellen. Damit löst „Beyond Totalitarianism‟ den 1997 ebenfalls bei Cambridge University Press erschienen Band von Ian Kershaw und Moshe Lewin als Referenzpunkt ab.

Einleitend umreißt Michael Geyer in großen Linien den Forschungsstand und das Anliegen der Herausgeber. Er betont, dass die Beiträge nicht von der Ähnlichkeit beider Regime ausgingen. Vielmehr gehe es darum, beide Formen der Gewaltherrschaft in ihrem spezifischen Kontext zu verstehen, sich der bedeutenden Unterschiede bewusst zu sein und zu fragen, wie sich ihr gleichzeitiges Auftreten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklären lässt. Schließlich sei es an der Zeit, sich aus nationalen Perspektiven zu lösen und nun, da die empirischen Grundlagen auf beiden Seiten vorhanden seien, die vergleichenden Fragen neu zu stellen. Es sei schließlich notwendig, den russischen und deutschen Fall in Beziehung zu setzen, da Stalinismus und Nationalsozialismus die europäische Geschichte im vergangenen Jahrhundert nachhaltig prägten. Dabei legen die Herausgeber den Untersuchungsschwerpunkt auf die Versuche, die sowjetische und die deutsche Gesellschaft gewaltsam umzugestalten. Außerdem wird gefragt, wie die beiden Länder sich gegenseitig wahrnahmen. Der chronologische Rahmen des Bandes beschränkt sich auf die dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts.

Die einzelnen Beiträge haben in der Mehrzahl von der doppelten Autorenschaft profitiert. Es spricht für die sorgfältige Arbeit der Verfasser und der Herausgeber sowie für ein umsichtiges Lektorat, dass gut lesbare und kohärente Texte entstanden sind. Den Auftakt bilden Yoram Gorlizki und Hans Mommsen mit einem Aufsatz über die politische Ordnung in beiden Ländern, der zwar nicht mit neuen Erkenntnissen aufwartet, aber die Forschung prägnant zusammenfasst und Merkmale einander gegenüberstellt. Hervorzuheben sind auch die Beiträge von Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel über den Zusammenhang von imperialer Expansion und Terror sowie Christopher Brownings Versuch, zusammen mit Lewis H. Sie­gelbaum die Unterschiede zwischen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und der fragmentierten sowjetischen Gesellschaft der dreißiger Jahre herauszuarbeiten. Sie zeigen, dass die beiden Regime ihr utopisches Programm gesellschaftlicher Umgestaltung vor dem Hintergrund verschiedener gesellschaftlicher Voraussetzungen vorantreiben mussten.

In einem Beitrag über den Alltag in der Diktatur setzen sich Alf Lüdtke und Sheila Fitzpat­rick kritisch mit Hannah Arendts These von der Atomisierung des Individuums unter totaler Herrschaft auseinander. An zahlreichen Beispie­len gelingt es ihnen zu zeigen, wie vielfältig, ambivalent und widersprüchlich die alltägliche Erfahrung im Stalinismus wie auch im Nationalsozialismus war. Der Beitrag erklärt Mechanismen der In- und Exklusion, die von den Regimen geschaffen wurden, und wendet sich explizit gegen die Ansicht, dass es unter totaler Herrschaft zur Zerstörung der Familie und anderer sozialer Nahkontakte gekommen sei. Vielmehr hätten sich sowohl Russen als auch Deutsche in schwierigen Zeiten auf die Familie verlassen; der Alltag in der Diktatur war in seiner Unübersichtlichkeit geprägt von Engagement, Mobilisierung, Ausgrenzung und Gewalt. Peter Fritzsche und Jochen Hellbeck zeigen, wie sich die Vorstellung vom „neuen Menschen“ und der Versuch, neue Identitäten zu stiften, in Russland und Deutschland unterschieden. Ihre Analyse der Rolle des Subjekts unter totaler Herrschaft steht in Gegensatz zum Befund von Lüdtke und Fitzpatrick: Während die Alltagshistoriker die Spielräume des Einzelnen aufzeigen, betont der kulturhistorische Ansatz von Fritzsche und Hellbeck den Einfluss des Leviathan auf Lebenswelt und Seelenleben.

Der letzte Teil des Bandes, der sich den Verknüpfungen zwischen beiden Regimen widmet, beginnt mit einem herausragenden Beitrag über die geteilte Kriegserfahrung, den Michael Geyer und Mark Edele erarbeitet haben. Die Verfasser sehen die verbrecherische Kriegsführung der Wehrmacht durch das Ziel einer vollständigen Zerschlagung der UdSSR determiniert; zugleich interpretieren sie die sowjetische Gegenmobilisierung als Reaktion einer bereits militarisierten Gesellschaft auf diese fundamentale Herausforderung. Weitere Radikalisierungs­schübe erfolgten durch die gegenseitige Wahrnehmung als totaler und unbarmherziger Feind. So war der Vernichtungskrieg, den die Wehrmacht nach Russland getragen hatte und den beide Seiten seit dem Herbst 1941 führten, auch ein Ergebnis der wechselseitigen Wahrnehmung. Die Verfasser erklären, dass totale emotionale Mobilisierung das Fundament des Vernichtungskrieges bildete; dabei differenzieren sie zwischen dem kühlen Durchhalte- und Vernichtungswillen der Wehrmacht und den kaum gezügelten Gefühlen der sowjetischen Verteidiger, die von ihrer Propaganda zu Rache und Vergeltung aufgefordert wurden. Den Band schließt ein Beitrag von Katerina Clark und Karl Schlögel über gegenseitige Perzeption ab, der sich jedoch auf die Wiederholung der bekannten Stereotype über Russen und Deutsche konzentriert.

Insgesamt präsentiert der Band eine überwältigende Menge an Informationen und verschiedene, häufig vergleichende Interpretationsangebote. Diese Vielfalt sowie die Nähe zum Forschungsstand sind ebenso seine Stärken wie die herausragende Bibliographie, die den Anhang bildet. Dennoch sei hier auch auf einige Defizite verwiesen: Die kulturhistorische Forschung, die in den vergangenen Jahrzehnten etwa mit Studien zu Festen und Feiern, zu Propaganda und Hochkultur wichtige Ergebnisse lieferte, ist nur durch einen Beitrag zu Biopolitik vertreten, der sich stark auf die Geschichte parteistaatlicher Apparate konzentriert. Es fehlt auch ein vergleichender Beitrag zur Geschichte von GULag und Holocaust. Zudem wäre es wünschenswert gewesen, für die Frage nach Verflechtungen zwischen russischer und deutscher Geschichte eine breitere Perspektive zuzulassen, die sich nicht auf die Zeit zwischen 1929 und 1953 beschränkt. Kritisch wäre abschließend anzumerken, dass die Auswahl der Fallstudien in einem Spannungsverhältnis zu dem Ziel steht, die Prämissen der Totalitarismustheorie zu überwinden. Der Fokus auf Gewalt – Geyer und Edele sprechen in ihrem Beitrag selbst von „totalitärer Gewalt“ – führt tendenziell dazu, einige Grundannahmen aus dem Paradigma totaler Herrschaft zu bestätigen. Dennoch ist der Band ein Meilenstein der Forschung, der für Lehrende wie für Studierende eine lohnende Lektüre ist. Für die deutsche Osteuropaforschung und Zeitgeschichte sollte „Beyond Totalitarianism ein Ansporn sein, die Initiative auf diesem spannenden und sensiblen Feld nicht den amerikanischen Kollegen zu überlassen.

Jan C. Behrends, Berlin

Zitierweise: Jan C. Behrends über: Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (eds.) Beyond Totalitarianism. Stalinism and Nazism Compared. Cambridge University Press Cambridge [usw.] 2009. IX. ISBN: 978-0-521-89796-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Behrends_Geyer_Fitzpatrick_Beyond_Totalitarism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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