Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Kathleen Beger
Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus. Tschechoslowakei und DDR 1948/49–1989. Hrsg. von Volker Zimmermann / Michal Pullmann. München: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. 486 S., Abb. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 34. ISBN: 978-3-525-37308-8.
Inhaltsverzeichnis:
http://d-nb.info/1051401615/04
Der Sammelband geht auf die gleichnamige Jahrestagung des Collegium Carolinum zurück, die im November 2011 in Kooperation mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Karls-Universität Prag abgehalten wurde. Insgesamt wurden 17 Tagungsbeiträge in den Sammelband aufgenommen, die auf Deutsch verfasst bzw. aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt worden sind.
Die Herausgeber verstehen Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus „als sich wechselseitig beeinflussende Deutungs- und Handlungsfelder“ (S. 2). Der Blick richtet sich deshalb nicht auf die „Dichotomie zwischen Herrschenden und Beherrschten“ (S. 5), sondern auf die konkreten „Interaktions- und Verhandlungsräume, in denen sich die ‚Normalität‘ (de)stabilisierte“ (S. 5). Der Sammelband verfolgt demnach nicht den Ansatz einer Repressionsgeschichte. Vielmehr will er einen Beitrag zur Untersuchung der Gesellschaftsgeschichte im Staatssozialismus leisten und dabei die Möglichkeiten und Grenzen verschiedener Akteure gegenüber der Staatsmacht ausloten.
Die Erforschung von Norm und Devianz erfreut sich seit geraumer Zeit größeren Interesses. Den Herausgebern zufolge liegt in Bezug auf die Tschechoslowakei hier ein Forschungsdesiderat vor, da sich das Interesse bisher vorrangig auf die politische Seite (Staatssicherheit, politische Justiz und Haft) konzentriert habe. Für die DDR existiert jedoch seit Längerem eine Forschung, die sich mit Themen wie Jugendkriminalität, „Asozialität“, Wirtschaftskriminalität oder der Volkspolizei beschäftigt, weshalb es sich angeboten habe, vergleichende Beiträge aufzunehmen. Diese Herangehensweise ist zwar nachvollziehbar, doch führt der Überhang an Aufsätzen zur Tschechoslowakei sowie die Tatsache, dass viele Beiträge ausschließlich einen Fokus auf eines der beiden Länder legen – Probleme, deren sich die Herausgeber durchaus bewusst sind –, dazu, dass der Anspruch einer vergleichenden Perspektive nur bedingt erfüllt wird. Insgesamt gibt es in dem Sammelband nur vier kontrastiv angelegte Beiträge. Alle anderen richten ihr Augenmerk entweder auf die Tschechoslowakei oder die DDR. Mitunter wird dieses Defizit dadurch wettgemacht, dass Beiträge zu gleichartigen Phänomenen in beiden Ländern – beispielsweise zur Jugenddevianz und zum Punk – Eingang gefunden haben. Andere Themen wie Wirtschaftskriminalität oder Drogenabhängigkeit beziehen sich dagegen ausschließlich auf die Tschechoslowakei. Eine strikt eingehaltene, vergleichende Perspektive hätte durchaus gewinnbringend sein können, zumal eine Reihe von Beiträgen keine wesentlich neuen Erkenntnisse hervorbringt.
Das sehr umfangreiche Werk erlaubt aus Platzgründen leider nur die Besprechung einzelner, eher subjektiv ausgewählter Beiträge. Grundsätzlich unterteilt sich der Sammelband in fünf Themenkomplexe. Den Anfang machen Aufsätze von Thomas Lindenberger, Michal Pullmann und Volker Zimmermann, die allgemeine Fragen zu Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus erörtern. Thomas Lindenberger (S. 15–38) macht am Beispiel der DDR deutlich, dass kommunistische Machthaber generell als „Sicherheitsfanatiker“ beschrieben werden können, die mittels Prävention ihre eigene Herrschaftsposition zu gewährleisten versuchen (S.–16). Unter dem Eindruck der „Allgegenwart des Gegners“ stehen sie in ständiger Alarmbereitschaft (S. 27), um den öffentlichen Raum zu kontrollieren und damit das Herrschaftsmonopol der Partei zu sichern (S. 36). Michal Pullmann (S. 39–56) skizziert die Bedingungen und Gegebenheiten in der Tschechoslowakei vor und nach 1968. Mit der Konsolidierung bzw. Normalisierung nach 1968 gingen konservative Wertvorstellungen wie Ordnung, sozialistische Gesetzlichkeit oder ruhige Arbeit einher, die die Annahme zur Folge hatten, dass von non-konformen Gruppen und kriminellen Minderheiten (z.B. Roma) „die Gefahr einer gewaltsamen Störung des friedlichen Alltags“ ausgehe (S. 40). Volker Zimmermann (S. 57–81) setzt sich anschließend mit Kriminalität und Kriminologie im Staatssozialismus auseinander und verweist auf die „Relikt-Theorie“, der zufolge Verbrechen als Überbleibsel der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet wurden, die dem Sozialismus an sich wesensfremd seien (S. 65). Die drei Autoren stecken damit hervorragend den Rahmen für die folgende Beiträge ab.
Der zweite Themenkomplex ist der Frage Sozialistische Ordnungshüter – Polizei und ihre Repräsentationen gewidmet. Die Autoren demonstrieren hier, wie versucht wurde, Polizisten möglichst volksnah erscheinen zu lassen, um so für sie Vertrauen bei der Bevölkerung zu gewinnen. Petr Koura (S. 149–192) untersucht in seinem Beitrag die Darstellung von Verbrechern und Polizisten in tschechoslowakischen Kriminalfilmen der 1950er und 1960er Jahre. Dabei stellt er fest, dass die Filme „mit den Strategien der kommunistischen Führung zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen von Ordnung und Sicherheit“ in Korrelation stehen (S. 192). Ihre Aufgabe bestand darin, „verschiedene Formen der Störung der sozialistischen Ordnung“ (S. 192) aufzuzeigen, wodurch dem Zuschauer einerseits vermittelt wurde, durch welche Handlungen die Schwelle zum Verbrechen überschritten wurde. Andererseits klärten sie über mögliche Konsequenzen und Strafen, die diese Vergehen nach sich zogen, auf (S. 192). Insgesamt steht in diesen Filmen der heldenhafte kommunistische Ordnungshüter zumeist dem imperialistischen Spion gegenüber, wodurch das Ansehen der Polizei in der Bevölkerung erhöht werden sollte.
Der dritte Block umfasst Beiträge zum Thema Jugenddevianz und -kriminalität – Gescheiterte Erziehung zum „sozialistischen Menschen“? Matěj Kotalík (S. 221–252) analysiert die Erscheinung des chuligánství bzw. „Rowdytums“ in der Tschechoslowakei und der DDR zwischen 1955 und 1966. Dabei verdeutlicht er, dass sich die kommunistischen Führungen der Tschechoslowakei und der DDR zumeist auf die „Relikt-Theorie“ beriefen, d.h. Verbrechen als Überbleibsel der bürgerlichen Ideologie auffassten, aber auch Einflüsse aus dem Westen für deren Entstehung verantwortlich machten. Zur Prävention von chuligánství und „Rowdytum“ wurden verschiedene Organisationen (Massenorganisationen, Polizei) herangezogen, die teilweise in Konkurrenz zueinander standen und oftmals keine klar definierten Zuständigkeitsbereiche aufwiesen, weshalb das angestrebte Ziel, ein Rückgang von chuligánství und „Rowdytum“, nicht erreicht wurde. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Christiane Brenner (S. 253–277) in ihrem Aufsatz zur Jugendkriminalität in der Tschechoslowakei der 1980er Jahre. Sie untersucht jugendliche Gewaltexzesse, die im Spätsozialismus an Häufigkeit gewannen. Auch die einsetzende Perestroika trug nicht dazu bei, dass die Maßnahmen zur Prävention koordinierter abliefen, da ein struktureller Umbau von der Führung offenbar nicht gewollt war. Stattdessen wurde weiterhin auf Repression und Ausgrenzung der Jugendlichen aus der Gesellschaft gesetzt. Madeleine Tosts Beitrag (S. 327–359) ist dem Punk in der DDR gewidmet. Ihr zufolge wurden Punks in der DDR als Bedrohung des sozialistischen Systems wahrgenommen. Die anfangs unpolitische Jugendbewegung wurde vom Staat überwacht und Repressionen unterworfen, was überhaupt erst dazu geführt habe, dass sie eine oppositionelle Rolle einzunehmen begann.
Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit der Frage Zwischen Devianz und Kriminalität – Verfall der „sozialistischen Moral“? Tomáš Vilímek (S. 361–398) setzt sich in seinem Beitrag mit Wirtschaftskriminalität am Beispiel des „Nationalbetriebs Automobilwerke“ in Mladá Boleslav auseinander. Gestützt auf eine breite Quellenbasis kommt er zu dem Schluss, dass „Diebstahl sozialistischen Eigentums“ eine allgegenwärtige Erscheinung darstellte. Die Ursache sieht er in der starken zentralen Lenkung und den damit verbundenen unklaren Verantwortlichkeiten, welche die Entstehung von Klientelismus, Korruption und Wirtschaftskriminalität begünstigten. Jan Kolář (S. 399–419) beschäftigt sich mit Drogenabhängigen in der Tschechoslowakei. Dabei stellt er fest, dass in erster Linie offiziell vertriebene Medikamente konsumiert und Lösungsmittel geschnüffelt wurden. Die Konsumenten gehörten einem breiten sozialen Spektrum an, waren tendenziell jedoch eher jung. Obgleich die Anzahl der Drogenabhängigen vor allem nach 1968 beträchtlich anstieg, wurde das Problem erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre in breiter Öffentlichkeit diskutiert. Kolář sieht die Ursache vor allem in dem liberalen Vertrieb von Arzneimitteln.
Der letzte Komplex hat Toleranz und ihre Grenzen – vom Umgang mit „Abweichung“ zum Thema. Stanislav Holubec (S. 437–463) erörtert hier den Umgang der Gesellschaft und der politischen Führung mit Homosexualität in der Tschechoslowakei. Obwohl bereits 1962 weitgehend legalisiert, blieb Homosexualität gesellschaftlich marginalisiert – ein Umstand, den Holubec darauf zurückführt, dass sie lange als Krankheit angesehen wurde. Erst in den 1980er Jahren bekannten sich einige wenige Underground-Autoren zu ihrer Homosexualität. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Homosexualität kam jedoch erst in der post-kommunistischen Zeit zustande, weshalb Holubec den Umgang mit Homosexualität in der Tschechoslowakei im Vergleich zur DDR als zurückgeblieben einstuft.
Auch wenn der Sammelband es nicht durchgehend vermag, die vergleichende Perspektive beizubehalten, ist es den Herausgebern dennoch gelungen, ein lesenswertes Werk vorzulegen. Die Autoren haben allesamt umfangreiches Quellenmaterial ausgewertet und dadurch fundierte und informative Aufsätze vorgelegt. Besonders hervorzuheben ist die Auswahl der einzelnen Beiträge, der es zu verdanken ist, dass sowohl Überblicksdarstellungen als auch Themen, die Neuland betreten, angeboten werden. Dem Anspruch, nicht die repressive, sondern die gesellschaftshistorische Perspektive einzunehmen, ist man definitiv gerecht geworden. Es bleibt zu hoffen, dass sich die historische Forschung weiterhin mit Themen und Fragestellungen dieser Art beschäftigen wird. Wünschenswert wäre zudem, wenn mit Hilfe von Oral History den Zeitzeugen größerer Raum in den Untersuchungen beigemessen werden würde.
Zitierweise: Kathleen Beger über: Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus. Tschechoslowakei und DDR 1948/49–1989. Hrsg. von Volker Zimmermann / Michal Pullmann. München: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. 486 S., Abb. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 34. ISBN: 978-3-525-37308-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beger_Zimmermann_Ordnung_und_Sicherheit.html (Datum des Seitenbesuchs)
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