Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Mathias Beer

 

Hans-Christian Petersen Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979). Osnabrück: fibre Verlag, 2007. 405 S., Abb. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 17. ISBN: 978-3-938400-18-0.

Wenn er auch nicht der Auslöser für die Auseinandersetzung der deutschen Geschichtswissenschaft mit ihrer jüngeren Vergangenheit war, so bildete der 42. Historikertag 1998 in Frankfurt am Main doch den „öffentlichtlichkeitswirksamen Kulminationspunkt der immer nachdrücklicher erhobenen Forderungen nach der Aufarbeitung des lange Verdrängten.“ (S. 14) In dem seither verstrichenen Jahrzehnt ist eine ganze Reihe von Studien entstanden, die mit unterschiedlichem thematischen und zeitlichen Zuschnitt sowie gestützt auf unterschiedliche Ansätze, Methoden und Quellen nach der Rolle der Geschichtswissenschaften (als Fach und Wissenschaftsverband) und der Historiker während der NS-Zeit gefragt haben. Dabei ist schon recht bald die alleinige Fixierung auf die Zeit des Nationalsozialismus zugunsten einer Einbettung in die Geschichte der Geschichtswissenschaften im 20. Jahrhundert aufgegeben worden. Dadurch gelang es, für einzelne Subdisziplinen, Wissenschaftsorganisationen, Forschungsverbünde und im Wirken von Wissenschaftlern Brüche und Kontinuitäten über die wesentlichen politischen Zäsuren (Erster Weltkrieg, Machtergreifung, Zweiter Weltkrieg und die Zeit nach 1945) offenzulegen und Voraussetzungen und Nachwirkungen des breit gefächerten Engagements deutscher Historiker für den Nationalsozialismus zu beschreiben.

In diesen forschungsgeschichtlichen Kontext gehört die Studie von Hans-Christian Petersen. Seine Dissertation zielt auf einen Teil der historiographischen Vergangenheitsbewältigung, die Analyse des weit gespannten Feldes der Ostforschung. Anders als der Mainstreams der Forschung wählt Petersen nicht einen „entpersonalisierten Zugang“ (S. 20), sondern den bisher in diesem Bereich eher selten beschrittenen Weg des biographischen Ansatzes. Im Mittelpunkt der Studie steht einer der Protagonisten der Ostforschung – Peter-Heinz Seraphim. Sein 1938 veröffentlichtes Buch „Das Judentum im osteuropäischen Raum“ brachte ihm den Ruf eines „Experten der Judenforschung“ ein.

Petersen arbeitet auf einer breiten, aus einer ganzen Reihe in- und ausländischer Archive in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragenen Quel­lengrundlage. Dennoch ist diese gerade mit Blick auf den gewählten biographischen Zugang schmal. Ein Nachlass von Seraphim ist offenbar nicht erhalten. Lediglich eine späte „unveröffentlichte Autobiographie“ Seraphims konnte Petersen ausfindig machen, das nahezu einzige Ego-Dokument, das ihm zur Verfügung stand. Das darin aufscheinende Selbstverständnis Seraphims konfrontiert Petersen mit der verfügbaren archivalischen Überlieferung. Umso größer ist der Stellenwert, den die Analyse der Veröffentlichungen von Seraphim einnimmt.

Die verdienstvolle Arbeit ist chronologisch aufgebaut und in fünf Kapitel gegliedert. Der Sozialisation Seraphims im „Grenzraum“ Baltikum, die das erste Kapitel behandelt, misst Petersen eine ebenso prägende Wirkung zu wie der Rolle des die Familie dominierenden Vaters. Hinzu kam in der Zwischenkriegszeit der von Grenzlanderfahrungen in Königsberg und Breslau bestimmte wissenschaftliche Werdegang Seraphims, der im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht. Das „wissenschaftspraktische“ Wirken des zum Professor in Greifswald aufgestiegenen Wissenschaftlers ist Thema des dritten Kapitels. Zu den wichtigsten Stationen in Seraphims Wirken bis 1945 zählen die Tätigkeit als Kriegsverwaltungsrat im Generalgouvernement und in der Ukraine, das Mitwirken in den „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“, seine Tätigkeit am „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ in Stettin. Die gleiche Aufmerksamkeit schenkt die Studie in ihrem vierten Kapitel dem missglückten Versuch eines Neuanfangs als Ostforscher und bestallter Professor in der Bundesrepublik nach 1945 und schließlich der Neuorientierung Seraphims als Studienleiter der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Bochum seit 1954. Seine Leitfragen aufgreifend, zieht Petersen im letzten Kapitel ein ebenso überzeugendes wie differenziertes Fazit. Keinen Zweifel lässt er daran, dass Seraphim ein NS-Ideologe war, für den die praktische Anwendbarkeit und Wirkung von Wissenschaft einen hohen Stellenwert hatte. Aber anders als die bisherige Forschung sieht Petersen in Seraphim, in dessen wissenschaftlichem Wirken er ein hohes Maß an Kontinuität über alle politischen Zäsuren hinweg erkennt, nicht einen „Vordenker der Vernichtung“, sondern einen von der Grundüberzeugung deutscher Überlegenheit geleiteten Vordenker nationalsozialistischer Rasse- und Umsiedlungspolitik.

Petersen hat eine wichtige und abwägende biographische Studie vorgelegt. Inwiefern sie ihren paradigmatischen Anspruch einlösen kann, wird die künftige Forschung zeigen.

Mathias Beer, Tübingen

Zitierweise: Mathias Beer über: Hans-Christian Petersen Bevölkerungsökonomie – Ostforschung – Politik. Eine biographische Studie zu Peter-Heinz Seraphim (1902–1979). fibre Verlag Osnabrück 2007. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 17. ISBN: 978-3-938400-18-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beer_Petersen_Bevoelkerungsoekonomie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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