Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Annelie Bachmaier

 

Klavdia Smola / Olaf Terpitz (Hgg.): Jüdische Räume und Topographien in Ost(mittel)europa. Konstruktionen in Literatur und Kultur. Wiesbaden: Harras­sowitz, 2014. XII, 274 S., 21 Abb., 6 Graph. = Opera Slavica, 61. ISBN 978-3-447-10281-0.

Inhaltsverzeichnis:

http://www.harrassowitz-verlag.de/dzo/artikel/201/238_201.pdf?t=1416395141

 

„A people without a land“ – der Topos vom Judentum als Volk ohne Heimat – hier in einem von Edward Said kolportierten zionistischen Zitat –, der in der Figur des zur immerwährenden Wanderung verdammten Ewigen Juden seine Verkörperung findet, bestimmt über Jahrhunderte hinweg die Selbst- wie auch die Fremdwahrnehmung der Juden. Aus dieser spezifischen conditio judaica resultiert ein besonderes Verhältnis zum Raum, das auf dem stets präsenten Spannungsfeld zwischen Heimat und Exil, Heimatlosigkeit und mehrfacher Verwurzelung beruht. Damit schreibt sich das komplexe Thema jüdischer Verortung(en) gleichsam natürlich dem spatial turn ein, einem Paradigmenwechsel in Form einer Refokussierung von der bis dahin dominierenden Kategorie der Zeit hin zur Kategorie des Raums, die sich seit Ende der 1980er Jahre in den Geistes- und Sozialwissenschaften vollzogen hat. Grund hierfür ist ein Raumbegriff, der weniger die physisch-territoriale als vielmehr die soziokulturelle Qualität von Räumen in den Vordergrund rückt: Diese werden als – kritisch zu hinterfragende – Produkte vielschichtiger Semantisierungsprozesse verstanden.

Der Sammelband Jüdische Räume und Topographien in Ost(mittel)europa. Konstruktionen in Literatur und Kultur widmet sich mit explizitem Bezug auf die ‚Raumwende‘ in der Literaturwissenschaft und deren nichtessentialistisches Raumverständnis der Untersuchung von „Raumkonstruktionen und topographische[n] Projektionen“ (S. VII) im Werk jüdischer Autoren und anderer Kulturschaffender. Vor dem Hintergrund einer Aktualisierung des Raumthemas in den Jewish Studies durch eine Verknüpfung mit postkolonialen, postmodernen und poststrukturalistischen Ansätzen wie displacement, Mimikry oder Alterität zielt die Publikation darauf ab, die hierdurch eröffneten neuen Perspektiven auch für den Grenzbereich der jüdisch-slavischen Studien fruchtbar zu machen.

Die aus einem Teil der Vorträge des Panels Slavisch-Jüdische Topographien: Grenzen, Gedächtnis, Sprachen, Geopoetik(en) auf dem 11. Slavistentag im Oktober 2012 in Dresden hervorgegangene und durch eine Reihe weiterer Beiträge ergänzte Publikation weist eine große zeitliche, räumliche und sprachliche Bandbreite auf: Die neun Aufsätze decken den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart ab und nehmen verschiedene Länder des im Titel unter dem Sammelbegriff „Ost(mittel)europa“ gefassten Gebiets – v.a. Polen, Tschechien (bzw. Tschechoslowakei), Russland, Litauen und die Sowjetunion – sowie Israel und deren jeweilige Sprachen in den Blick. In medialer Hinsicht befassen sich, mit Ausnahme zweier Untersuchungen zu Film bzw. Videokunst und Performance, alle Aufsätze mit literarischen Texten zu verschiedensten Themen.

Der angesichts dieser Diversität als gemeinsamer Nenner fungierende performative Raumbegriff schließt die Frage nach den Akteuren – und deren Hierarchie – mit ein. Diesbezüglich lassen sich in der Zusammenschau aller Beiträge zwei wesentliche Wechselwirkungen erkennen. Zum einen liegen häufig plurale und in der Regel konkurrierende Raumsemantisierungen vor, die sowohl durch die jüdische Bevölkerung und die sie jeweils umgebende, meist slavische Mehrheitsgesellschaft, als auch durch verschiedene innerjüdische Gruppen, etwa aus unterschiedlichen Ländern oder mit divergierenden Ansichten und Interessen, vorgenommen werden. Diese Konstruktionen und Projektionen sind dabei keineswegs stabil, sondern unterliegen einem beständigen Aushandlungsprozess, der sich als expliziter wie auch impliziter Diskurs und Gegendiskurs gestaltet und auf (meist politische) Veränderungen – mit dem Holocaust als zweifellos größter Zäsur – reagiert. Zum zweiten findet auch zwischen den von einem Kollektiv geteilten Raumwahrnehmungen und deren künstlerischer Repräsentation und Rekontextualisierung durch Autoren und andere Kulturschaffende ein kontinuierlicher und kreativer wechselseitiger Austausch statt.

Der Sammelband wird von einem der beiden Herausgeber, Olaf Terpitz, mit dem Beitrag Das Feuilleton und die Stadt. Lev Levanda, Sholem Aleichem und Antoni Słonimski eröffnet. Der erste Teil bietet einen Überblick über gängige Raumtheorien sowie einige Überlegungen zu jüdischen Räumen im Besonderen. Aufgrund seiner Relevanz für die gesamt Publikation wäre dieser Abschnitt in der Einleitung sinnvoller platziert gewesen. Weitere theoretische Betrachtungen zum spezifischen Raum der Großstadt in der Epoche der Moderne in Anschluss an Corbineau-Hoffmann sowie zum Feuilleton in Anschluss an Benjamin bereiten die im weiteren Verlauf vorgenommene textbasierte Analyse vor. Terpitz untersucht die in den Feuilletons der jüdischen Schriftsteller und Intellektuellen Levanda, Aleichem und Słonimski unternommenen literarischen Kartierungen der Städte Wilna (Vilnius), Kiew und Warschau und arbeitet anhand von Textbeispielen deren jeweils spezifische Züge heraus. Abschließend identifiziert er trotz der unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Entstehungskontexte und Themen der Feuilletons und der persönlichen Hintergründe der drei Autoren die Verschränkung von Urbanität und sich wandelnder jüdischer Erfahrung als übergeordnetes Thema.

Im Anschluss folgen zwei Aufsätze, die das Thema der Einordnung Kafkas – als Deutscher, Jude oder Tscheche – mit Blick auf seine Prager Herkunft aus der Innen- bzw. Außenperspektive beleuchten. Boris Blahak geht in „Ein Tscheche? Nein“. Franz Kafkas topographisch bedingte Exophonie und die innerste Dyade von Judentum und Slavia Kafkas bewusster wie auch unbewusster Selbstverortung durch Sprache in Briefen und anderen Zeugnissen nach. Die Selbstpositionierung dieses Autors erfordert, wie Blahak zeigt, eine Unterscheidung zwischen Kafka als Schriftsteller, der eine solche Dyade aus Karrieregründen entschieden negierte, sowie Kafka als Arbeitnehmer und Privatperson, der selbige in der Hoffnung auf persönliche Vorteile aktiv inszenierte. Nach der Feststellung, dass in beiden Fällen keine jüdisch-slavische Dyade vorliegt, kommt der Verfasser in einem letzten Schritt zu dem Schluss, dass diese jedoch auf einer dritten Ebene durch jiddische wie auch tschechische Interferenzen in seiner deutschen Literatursprache nachweisbar ist – d.h. als eine von Kafka selbst nicht reflektierte, durch seiner Verortung im multiethnischen Prager Raum erworbene Dyade. Obwohl der Verfasser Kafkas zwiegespaltenes Verhältnis zum Tschechischen und Jiddischen anhand von Zitaten nachvollziehbar illustriert, erscheint der Begriff der Dyade für diese Untersuchung nicht ganz zutreffend gewählt, da die Analyse weniger die enge Zweierbeziehung von Judentum und Slaventum als vielmehr deren jeweilige Wechselwirkung mit Kafkas dritter, deutscher Identität aufzeigt.

Mit der Fremdverortung des Schriftstellers befasst sich dagegen Astrid Winter in ihrem Beitrag Was in Lesebüchern fehlte. Jüdische Identität und Prager Topographie als Kanonisierungsfaktoren der aktuellen tschechischen Kafka-Rezeption. Im ersten Teil des Aufsatzes verfolgt die Autorin die wechselhafte offizielle Rezeptionsgeschichte der dreifachen Identität Kafkas in Abhängigkeit von politisch-ideologischen Entwicklungen anhand seiner Darstellung in tschechischen Lese- und Schulbüchern nach. Die anschließend vorgestellten Ergebnisse einer von der Verfasserin durchgeführten Umfrage zur ethnischen und sprachlichen Verortung Kafkas bestätigen weitgehend das von den Lehrbüchern seit Ende der 1980er Jahre geprägte Bild Kafkas als tschechischer und vor allem als Prager Autor, dessen deutsche Identität in der populärem Wahrnehmung weitgehend durch seine jüdische verdrängt wurde.

Während in den bislang vorgestellten Beiträgen die (städtischen) Räume mit ihren jeweiligen spezifischen soziokulturellen Eigenschaften eher als – wenn auch entscheidender – Hintergrund für die Analysen fungieren, rücken sie in zwei weiteren Aufsätzen, beide mit Bezug zum Holocaust, stärker in den Fokus. Natascha Drubek untersucht in ihrem Beitrag Ghettoisierte Sprachen. Die tschechisch-deutsche „Zwangsgemeinschaft“ der Juden von Theresienstadt die Topographie des von jüdischen „Tschechoslowaken“, Deutschen und Österreichern unterschiedlichster Weltanschauung bewohnten Ghettos mit besonderem Fokus auf der – teils konfligierenden – Verknüpfung von Sprache und Zugehörigkeit. Monika Bednarczuk stellt in Die jüdisch-polnische Topographie Lublins in den Erinnerungspraktiken des Zentrums Brama Grodzka – Theater NN die performative Transformation des ehemaligen jüdischen Viertels von einem Raum ohne Spuren jüdischen Lebens in einen interkulturellen Gedächtnis- und Begegnungsort auf anschauliche Weise vor.

Bei den in den vier übrigen Beiträgen des Sammelbands thematisierten Räumen handelt es sich dagegen um Makroräume, d.h. Regionen oder Länder. Der – wie in Lublin – ebenfalls von der geographischen Landkarte verschwundene jüdisch-litauische Raum erfährt eine Wiederkehr in Form von literarischen Topographien von Heimat im Werk des litauisch-jüdischen Autors Grigorij Kanovič, so der Titel des Aufsatzes von Christina Parnell, die die in ihnen enthaltene Semantik der Ausweglosigkeit aufzeigt. Ebenfalls stark textbasiert analysiert Britta Korkowsky in Überall und nirgendwo: Raumsemantisierung in Il’ja Ėrenburgs Chulio Churenito die narrative Funktion von Bedeutungszuschreibungen verschiedenster Räume, von Westeuropa und Paris über Russland bis zum Kaukasus und dem Senegal.

Das auch in anderen Beiträgen immer wieder anklingende Thema Israel steht im Zentrum des Aufsatzes der zweiten Herausgeberin des Sammelbands Klavdia Smola. In Die Erfindung des Gelobten Landes. Utopische Raum- und Zeitkonzepte in der Prosa des spätsowjetischen jüdischen Dissens arbeitet die Verfasserin sehr ausführlich anhand von mehreren Exodus-Romanen die Imagination Israels als sowohl räumliches als auch zeitliches Gegenkonzept zum damaligen Leben in der Sowjetunion heraus, d.h. mit Israel als jüdischer Urheimat in der Vergangenheit wie auch als Ziel zukünftiger zionistischer Bestrebungen. Zusammen mit einer Reihe weiterer jüdischer Gegenorte entsteht hierdurch eine spezifische Raumtopik, die den Widerstand gegen die hegemoniale russisch-sowjetische Kultur auch auf der strukturellen Ebene in den Texten verortet. Als entscheidend für die räumlichen wie auch zeitlichen Semantisierungen identifiziert Smola die Anwendung biblischer Deutungsmuster und mythologisch-mystischer Überlieferungen auf historische und gegenwärtige Ereignisse.

Die Verkehrung des zionistischen Gedankens thematisiert dagegen Tanja Zimmermann in Polen und Israel als Resonanzräume der Erinnerung. Polnisches Exil und jüdische Emigration in der Videokunst Artur Żmijewskis und der Gruppe Jewish Renaissance Movement in Poland. In ihrem Text stellt sie u.a. die Aktivitäten einer Gruppe polnischstämmiger Künstler aus Israel vor, die mithilfe verschiedener Medien Juden in Israel zur Rückkehr nach Polen aufruft. Mittels einer Analyse der von verschiedensten, oft dekontextualisierten Symbolen geprägten (Bild-)Sprache zeigt die Autorin das groteske Spiel mit Identität und Erinnerung auf.

Identität und Erinnerung sind letztlich auch die beiden Themen, die, neben der Kategorie des (jüdischen) Raums, sämtliche Beiträge des Sammelbandes miteinander verbinden und mit dem jüdischen Raum ihrerseits in enger Beziehung stehen. Dabei erweisen sich jüdische Gedächtnisorte und Erinnerungsräume in vielen Fällen als verloren oder zerstört (so in den Aufsätzen von Bednarczuk, Parnell, Smola und Zimmermann), sodass sie einer aktiven (Re-)Konstruktion – etwa in Form topographischer Projektionen im Medium der Literatur – bedürfen, die nicht selten mit einer vollständigen oder partiellen Umkodierung einhergeht. Die durch die Erinnerung erzeugte Vorstellung einer Kontinuität ist wiederum von größter Bedeutung für die individuelle wie auch kollektive jüdische Identität, deren Problematik sich ebenfalls auf den Raum, d.h. auf die Diasporasituation, zurückführen lässt.

Aufgrund dieser Verbindung von Raum, Identität und Erinnerung kommt ersterem auch in denjenigen Beiträgen, in denen er nicht ausdrücklich im Fokus steht, eine bedeutende Rolle zu. Da in dem Sammelband ausschließlich jüdische Mikroräume wie etwa Synagogen keine Betrachtung finden, erfolgt durch die Konzentration auf multiethnische und multikulturelle Räume – vom Dorf oder Shtetl über die (Groß-)​Stadt bis hin zu Regionen und Ländern – eine Betonung der Doppel- oder Mehrfachkodierungen der von unterschiedlichen Gruppen gemeinsam bewohnten Räume. Hierdurch wird deutlich, dass jüdische Räume (wie auch Identitäten und Erinnerungen) als Gegenstände beständiger Aushandlungsprozesse und somit als instabile Konstrukte zu betrachten sind. Das in der Einleitung genannte Ziel des Sammelbandes, jüdische Raumkonstruktionen in Ost(mittel)europa speziell im Hinblick auf plurale Existenzen und problematische Identitäten zu untersuchen, wird damit erreicht.

Durch die Anlage des Bandes als Zusammenstellung von oftmals sehr spezifischen Fallstudien gelingt es naturgemäß nur in eingeschränktem Maße, die als Motivation für die Publikation genannten Forschungslücken an der Schnittstelle von Judaistik und Slavistik zu schließen. Allerdings liegt gerade hier auch eine Stärke, da der Band durch die große Bandbreite die in den verschiedensten Kontexten vorhandene Pluralität jüdischer Raumsemantisierungen verdeutlicht. Letztendlich hätte die Publikation aber durch ein ausführlicheres Vorwort oder ein Nachwort, das die Ergebnisse der disparaten Beiträge zusammenführt, enorm gewonnen.

Abschließend lässt sich festhalten, dass sich die hier erfolgte Anwendung von Erkenntnissen und Methoden des spatial turn auf jüdische Räume im östlichen Europa als äußerst fruchtbar zur Analyse des Spannungsfelds zwischen physischen und metaphysischen Räumen, zwischen Rekonstruktion und Projektion erweist. Der Topos vom jüdischen Volk als „a people without a land“ wäre demnach umzuformulieren in „a people without one land“ – aber mit mehreren Heimaten – dem Geburts- oder Wohnort in der Diaspora als individueller Heimat, Israel als Urheimat des Judentums sowie dem jüdischen kollektiven Gedächtnis und der Heiligen Schrift als portabler, spiritueller Heimat.

Annelie Bachmaier, Regensburg

Zitierweise: Annelie Bachmaier über: Klavdia Smola / Olaf Terpitz (Hgg.): Jüdische Räume und Topographien in Ost(mittel)europa. Konstruktionen in Literatur und Kultur. Wiesbaden: Harras­sowitz, 2014. XII, 274 S., 21 Abb., 6 Graph. = Opera Slavica, 61. ISBN 978-3-447-10281-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bachmaier_Smola_Juedische_Raueme.html (Datum des Seitenbesuchs)

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