Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jörg Barberowski

 

Leonid Naumov: Stalin i NKVD [Stalin und der NKVD]. Moskva: Novyj Chronograf, 2010. 601 S. ISBN: 978-5-94881-090-4.

War Stalin der Urheber des Massenterrors, der 1937 seinen Höhepunkt erreichte, oder war er nur ein Getriebener, der der Dynamik der Gewalt nicht mehr entkam? Auf diese Frage haben Historiker in den zurückliegenden Jahrzehnten unterschiedliche Antworten gegeben. Inzwischen aber besteht kein Zweifel mehr daran, dass der Diktator Urheber des Massenmordes war, dem in den Jahren 1937 und 1938 mehr als 600.000 Menschen zum Opfer fielen. Aber hatte Stalin auch unter Kontrolle, was er ins Werk gesetzt hatte? Diese Frage beantwortet Leonid Naumov so, wie sie auch J. Arch Getty beantwortet hätte: Stalin habe die Gewalt zwar ausgelöst, aber ihm sei dann die Kontrolle über das Geschehen entglitten. Wie konnte das geschehen? Naumov entfaltet folgendes Szenario. Stalin habe sich ursprünglich nur von den Anhängern Trockijs und Zinov’evs befreien wollen, im Sommer 1936 aber sei in seiner Umgebung der Gedanke aufgekommen, nicht nur sie, sondern auch Bucharin und seine Anhänger zu entfernen. Unmittelbar danach hätten Stalins Gefolgsleute, vor allem Kaganovič, Ežov und Ždanov, den NKVD-Chef Genrich Jagoda als Komplizen Bucharins diskreditiert und die Sicherheitsorgane in den Strudel der Gewalt hineingezogen. Im Zentralkomitee, glaubt Naumov zu wissen, habe es im Sommer 1936 erbitterte Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob Kommunisten erschossen werden dürften. Ordžonikidze, Enukidze, Jagoda, Tuchačevskij und Rudzutak seien dagegen, Kaganovič, Molotov, Ežov und Vorošilov dafür gewesen. Stalin habe deshalb keinen anderen Ausweg gesehen, als Zauderer aus dem Führungskreis zu entfernen. Zu diesem Zweck sei dann auch der NKVD reorganisiert und alle Gefolgsleute Jagodas aus ihm entfernt worden. Stalin habe sich gefürchtet: vor einer Verschwörung des Militärs, vor Attentaten und vor dem „inneren Feind“. Überall hätten der Diktator und seine Gefolgsleute sich von Feinden und Saboteuren umgeben gesehen. Als der Terror ins Werk gesetzt wurde, seien sowohl im Zentralkomitee als auch im NKVD Konflikte zwischen Gruppen und Clans ausgebrochen, die der Gewalt eine verhängnisvolle Dynamik verliehen hätten. Bald schon sei Stalin klar geworden, dass die lokalen NKVD-Führer sich nicht kontrollieren ließen und auf eigene Rechnung töteten. Ežov habe kompromittierendes Material gegen die Führer der Partei und gegen Stalin selbst gesammelt. Am Ende kehrte sich die Gewalt gegen ihre Urheber selbst, weil Stalin gute Gründe gehabt habe, sich vor einem Umsturzversuch Ežovs zu fürchten. „Die Ursache diesen blutigen Chaos“, schreibt Naumov, „bestand darin, dass auf jeder Etappe in verschiedenen Regionen unterschiedliche Akteure der politischen Gewalt handelten: Stalins Gefolgschaft, die lokalen Parteiführer und die Führung des NKVD.“ (S. 405)

Naumovs Interpretation der Ereignisse ist nicht neu. Seit Jahrzehnten wird sie von J. Arch Getty in unterschiedlichen Varianten immer wieder vorgetragen. Aber es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass der Massenterror eine Folge unkontrollierbarer Konflikte gewesen sei. Und es gibt auch keinen Nachweis für die These, dass Stalin und seine Gefolgsleute an die Existenz von Verschwörern, Saboteuren und „fünften Kolonnen“ geglaubt hätten. Naumovs Beglaubigungsquellen haben überhaupt keine Überzeugungskraft. Denn sollen wir wirklich für wahr halten, was Ežov unter Androhung der Folter im Jahr 1939 gestand und was Molotov 1972 über das Jahr 1937 mitzuteilen hatte? Es fällt schwer, ihren Versicherungen zu glauben. Denn der eine hatte Angst und gestand, was ihm aufgezwungen wurde, und der andere rechtfertigte den Massenterror des Jahres 1937 mit Argumenten, die 1972 für glaubhaft gehalten werden konnten. Dokumente erzählen uns nicht die Wahrheit. Sie erzählen allenfalls eine Wahrheit, wenn man sie ins Licht der Interpretation hält.

Jörg Baberowski, Berlin

Zitierweise: Jörg Barberowski über: Leonid Naumov: Stalin i NKVD [Stalin und der NKVD]. Moskva: Novyj Chronograf, 2010. 601 S. ISBN: 978-5-94881-090-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Baberowski_Naumov_Stalin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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