Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martin Aust

 

«Ponjatija o Rossii». K istoričeskoj semantike imperskogo perioda. Redaktory A. Miller / D. Sdvižkov / I. Širle. Moskva: NLO, 2012. Tom 1: 575 S.; Tom 2: 491 S. = Historica Rossica, Studia Europaea. ISBN: 978-5-86793-935-9; 978-5-86793-938-0.

Inhaltsverzeichnisse:

http://d-nb.info/1027227937/04

http://d-nb.info/1043110933/04

 

Um die Semantik im kaiserlichen Russland zu untersuchen, integrieren die Herausgeber einschlägige Ansätze zur Analyse von Sprache in der Geschichte. Vor allem die Geschichtlichen Grundbegriffe von Brunner, Conze und Koselleck und die sogenannte Cambridge School von Pocock und Skinner sowie in Maßen die Diskursanalyse Foucaults werden als methodische Orientierung benannt. Hinsichtlich Sprache als Indikator von diachronem Wandel orientieren sich die Bände an den Geschichtlichen Grundbegriffen. Die Cambridge School lenkt den Blick auf die diskursive Aushandlung von politischen Konzepten. Sprache oszilliert in den beiden Bänden zwischen den Qualitäten als Faktor und Indikator politisch-gesellschaftlichen Wandels. Die Bände erheben nicht den Anspruch enzyklopädischer Vollständigkeit. Es geht vielmehr darum, ein Forschungsfeld aus sprachgeschichtlicher Perspektive zu strukturieren. Dabei nehmen die Bände fünf große Zusammenhänge in den Blick: (1.) Gesetzgebung und juristische Praxis, (2.) soziale Stratifizierung, (3.) Gesellschaft und Öffentlichkeit, (4.) Nation und Imperium, Organisation des Raumes sowie (5.) Ethnos und Rasse. Auf allen fünf Feldern geht es nicht darum, hierarchisierend zentrale Schlüsselbegriffe zu etablieren. Vielmehr erfolgen Erkundungen semantischer Felder, die Begriffe und Gegenbegriffe behandeln. Völlig zu Recht merken die Herausgeber in ihrer Einleitung an, dass die Darstellung der Ergebnisse als Hypertext eine lohnende Alternative zur Buchpublikation wäre. Es handelt sich dabei nicht um eine Verbeugung vor dem medialen Zeitgeist. Die Beiträge lassen erkennen, wie viel Gewinn in der Perspektive des Hypertexts steckt, etwa wenn Ri­carda Vulpius in ihrem Text über die Semantik des Imperiums und das Begriffsfeld der Zivilisation auf einer einzelnen Seite (Bd. 2, S. 63) die Wortfelder poddanstvo und Nation tangiert, die Eric Lohr und Aleksej Miller in ihren Beiträgen behandeln. Dergleichen Beispiele ließen sich noch mehr anführen. Zu den Stärken der Bände zählen zweifelsohne auch die Ambivalenzen, die die Herausgeber ihren Lesern bewusst zumuten. Auf der einen Seite handeln die Bände von der toten Sprache eines untergegangenen Reiches. Wer die Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts liest, greift zu Lexika, denen in unserer Gegenwart jegliche alltägliche Relevanz abgeht. Auf der anderen Seite jedoch stehen heute politische Begriffe des Zarenreiches, wie etwa der der Nation, im Mittelpunkt der Selbstvergewisserungsdebatten im postsowjetischen Russland. Wer sich in den aktuellen russischen Diskursen über Staat, Nation und Gesellschaft orientieren möchte, kommt um eine erneute Lektüre zentraler Konzepte des Zarenreiches gar nicht umhin. Erst so lassen sich Tradition und Innovation aktueller russischer Konzepte wie etwa das des rossijskij narod verstehen und historisch einordnen. Unter die Mehrdeutigkeit fällt auch die Dimension der Zeit. Ihren Untersuchungszeitraum finden die beiden Bände historisch-staatsrechtlich im kaiserlichen Russland zwischen den beiden großen Brüchen der petrinischen Kulturrevolution und der grundstürzenden Veränderungen von 1917. Die Beiträge stützen diese altgewohnte Periodisierung und verflüssigen sie doch auch zugleich. Michail Kiselev unterstreicht mit Blick auf pravda und zakon den Umbruch der Peterzeit. Im Moskauer Russland galt der Monarch als Richter, dessen Urteile der alt­etablierten pravda (Gerechtigkeit) zu entsprechen hatte. Seit der Peterzeit erscheint der Monarch als Gesetzgeber (zakon), der Neues schafft. Eric Lohr wiederum verhandelt Wandel und Kontinuität um 1917 anhand des Begriffspaares poddanstvo und graždanstvo. Terminologisch-staatsrechtlich scheidet 1917 die Epochengrenze zarischer „Untertanenschaft“ und sowjetischer „Staatsbürgerschaft“. Konzeptionell operierte jedoch die liberale Opposition im späten Zarenreich mit einer Idealvorstellung von Staatsbürgerschaft. Zudem erhielt die russische Untertanenschaft nach 1905 Individualrechte, die der Praxis sowjetischer Staatsbürgerschaft vollkommen abgingen. Neben der Kategorie Zeit kommt auch der Raum zum ihm gebührenden Recht. Die Beiträge erkunden hellsichtig die Begriffstransfers aus anderen Sprachen in das Russische. Der Band fordert nachgerade dazu auf, weitere Untersuchungen zu Sprachtransfers in Angriff zu nehmen. Während russische Rezeptionen aus europäischen Entnahmekontexten als gut untersucht gelten dürfen, erscheinen Sprachgeschichten, die russisch-turktatarische und russisch-asiatische Sprachbeziehungen ausleuchten, als ein vorrangig zu bearbeitendes Feld. Interessant wäre es für folgende Arbeiten auch, die sprachliche Aushandlung von Konzepten um die Untersuchungsdimension performativer Szenarien und visueller Geschichten zu erweitern.

Alles in allem stellen die beiden Bände eine wichtige Publikation zu zentralen Fragen russischer Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert dar, deren hochwertige Beiträge die Rahmensetzungen der Herausgeber aufgreifen, überzeugend ausfüllen und dabei Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen bieten. Vor einigen Jahren riefen die Herausgeber der Zeitschrift Kritika: Explorations in Russian and European History (7 [2006], No. 4) dazu auf zu überprüfen, wie das imperiale Paradigma sich zu etablierten Narrativen russischer Geschichte verhalte. Die hier zu besprechenden beiden Bände deuten an, wie fruchtbar sich Begriffs-, Politik- und Sozialgeschichte des petrinischen Russland mit der jüngeren Kulturgeschichte des Imperiums verbinden lassen.

Martin Aust, München

Zitierweise: Martin Aust über: «Ponjatija o Rossii». K istoričeskoj semantike imperskogo perioda. Redaktory A. Miller / D. Sdvižkov / I. Širle. Moskva: NLO, 2012. Tom 1: 575 S.; Tom 2: 491 S. = Historica Rossica, Studia Europaea. ISBN: 978-5-86793-935-9; 978-5-86793-938-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Aust_Miller_Ponjatija_o_Rossii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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