Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christoph Augustynowicz

 

Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie. Hrsg. von Tatjana Tönsmeier und Velek Luboš. München: Meidenbauer, 2011. 330 S., Abb., Tab. = Studien zum mitteleuropäischen Adel, 3. ISBN: 978-3-89975-090-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Es ist und bleibt anregend, geschichtswissenschaftlich anerkannte, konventionelle Periodisierungsmarkierungen und -umbrüche mittels langfristig wirksamer gesellschaftlicher Formationen gegenzugewichten. Der vorliegende Band spannt einen derartigen Bogen zwischen Bruch und Kontinuität anhand der Konfrontation einer der langlebigsten sozialen Gruppen der Geschichte, des Adels, mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Dynamiken des langen 19. Jahrhunderts. Grundlegend für diesen Zugang sind der Modernisierungsprozess zum einen und die Rolle des Adels als dessenAntipode(S. 7) zum anderen.

Der Band verarbeitet Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung, die 2006 in Prag im Rahmen des an der Karls-Universität abgehaltenen ProjektesVerwandlung der gesellschaftlichen Eliten im Prozess der Modernisierung. Der Adel in den böhmischen Ländern 1749–1948veranstaltet wurde, und ist in drei Abschnitte unterteilt. Teil I behandelt politisches und soziales Denken im Adel: Ideen, Konzepte, Personen. Miloš Řezník geht dabei auf die politischen Programme der galizischen Stände unter Leopold II. ein, Vojtĕch Belling auf preußischen Konservativismus und seine Vorbildwirkung auf die österreichischen Konservativen, Jiří Georgiev widmet sich der Frage nach konservativer Gesinnung und böhmischem Adel, Milan Hlavačka demkonservative(n) Anbruch der Moderne(S. 55), Rudolf Kučera einem schlesisch-böhmischen Adelsvergleich, Marga­rete Buquoy ihrem Namensvetter Georg von Buquoy als Akteur des Jahres 1848, Jiří Rak der tschechischen patriotischen Gesellschaft und Leo Thun und Zdenĕk Bezecný den politischen Ansichten Friedrich zu Schwarzenbergs.

Teil II fokussiert chronologisch etwas breiter Höfe und Landtage als politische Zentren des 18. und 19. Jahrhunderts. József Glósz führt hier in Mechanismen adeliger Machtentfaltung in Ungarn von 1711 bis 1848 ein, István M. Szijártó behandelt das Verhältnis von ungarischem Komitatsadel und Landtag im späten 18. Jahrhundert, Josef Matzerath adelige Opposition in Kammern des sog. Dritten Deutschland, Karin Schneider die Obersten Hofchargen der Habsburgermonarchie im Vormärz, Roland Gehrke die schlesischen Provinziallandtage im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts und Martina Winkelhofer die politische Verortung der Obersten Hofbeamten unter Franz Josef I.

Teil III schließlich konzentriert sich auf den Adel Cisleithaniens im konstitutionellen Zeitalter: namentlich auf Parlamente und Parteien. An dieser Stelle führt Franz Adlgasser in den höheren Adelim altösterreichischen Parlament(S. 215) ein, Hans Peter Hye widmet sich der Bedeutung des Oktoberdiploms von 1860 für den böhmischen Adel, Lothar Höbelt dem Adel und der Kurie der Großgrundbesitzer nach 1861; Luboš Velek, einer der beiden Herausgeber des Bandes, widmet der politischen Organisation der Großgrundbesitzer in den böhmischen Ländern nach 1860 anhand des Beispiels der konservativen Großgrundbesitzer in Böhmen auffallend viel Platz; Šárka Lell­ková schließlich fokussiert ihr Interesse auf den konservativen Großgrundbesitz in Böhmen und die Wahlen von 1907.

Alle Beiträge berücksichtigen den aktuellen Forschungsstand; die meisten darüber hinaus eine große Bandbreite an Quellen und Forschungsperspektiven in unterschiedlichen Sprachennicht alle Themen legen dies im gleichen Maß nahe. Im Sinne der Forschungsinnovation fällt darüber hinaus in einigen Beiträgen die Einarbeitung von Archivmaterial positiv auf. Erfreulich ist auch die weitläufige Berücksichtigung ostmitteleuropäischer gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge vor allem nach Westen (Preußen, Schlesien), aber auch nach Osten (Galizien). In einer Reihe von Beiträgen in Teil I stehen individuelle Akteure explizit im Vordergrund, im gesamten Teil II werden unterschiedliche funktionale Verflechtungen zwischen Individuen und Kollektiven auf institutioneller Ebene angesprochen. Damit erhält der Band über struktur- und institutionsgeschichtliche Schwerpunkte hinaus grundlegendes Potential für eine Neureflexion der stets rege diskutierten historiographischen Gattung Biographie.

Der im Gegensatz zu diesen speziellen Interessen doch sehr allgemein gehaltene Titel des Bandes wird zwar durch den Untertitel konkretisiert, dennoch muss bemerkt werden, dass der Anspruch, die Nachbarländer der Habsburgermonarchie zu behandeln, de facto lediglich für die Nachbarn im Westen eingelöst wird. Die Fokussierungen auf teils enge räumlich-zeitliche Ausschnitte (v.a. Teil III zum böhmischen Großgrundbesitz) hätten in den sehr übergeordnet gehaltenen thematischen Titeln der drei Abschnitte noch deutlicher gemacht werden können.

Dessen ungeachtet liegt mit dem Band eine beeindruckende Sammlung von Einzelstudien vor, die sich zu Zusammenhängen fügen und die weitere Adelsforschung befruchten werden. In diesem Sinne ist der in der Einleitung kurz, aber prägnant gefasste Leitgedanke des Bandes jedenfalls erfüllt: Dieunmittelbare Reaktion des Adels […] auf das Vordringen neuer sozialer und politischer Gedanken(S. 7) im Sinne der Erhaltung seiner möglichst starken Position als traditionelle Elite in der Habsburgermonarchie während des (sehr) langen 19. Jahrhunderts wird schlüssig herausgearbeitet.

Christoph Augustynowicz, Wien

Zitierweise: Christoph Augustynowicz über: Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie. Hrsg. von Tatjana Tönsmeier und Velek Luboš. München: Meidenbauer, 2011. 330 S., Abb., Tab. = Studien zum mitteleuropäischen Adel, 3. ISBN: 978-3-89975-090-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Augustynowicz_Toensmeyer_Adel_und_Politik.html (Datum des Seitenbesuchs)

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