Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan-Hinnerk Antons

 

Babette Quinkert / Jörg Morré (Hrsg.): Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944. Vernichtungskrieg – Reaktionen – Erinnerung. Paderborn: Schöningh, 2014. 416 S., 15 Abb., 2 Tab. ISBN: 978-3-506-77780-5.

Zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Wir sind die Herren dieses Landes. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, einem Konferenzband des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst, herausgegeben von Babette Quinkert, gibt es eine neue Bestandsaufnahme der Forschung zur deutschen Herrschaft in der Sowjetunion in derselben Konstellation. Die Konferenz vom November 2012 punktet wie ihre Vorgängerin im Jahr 2001 mit der Thematisierung bislang vernachlässigter Fragen und dem Zusammenbringen osteuropäischer und deutscher Historiker. Sie ermöglicht damit einen Dialog, der aktuell so dringend geboten scheint, wie nie zuvor seit dem – man ist versucht zu sagen vermeintlichen – Ende der Blockkonfrontation. Die semantische Verschiebung im Titel von Krieg zu Besatzung spiegelt sich nur bedingt in der Programmatik wieder; in beiden Bänden ist von beidem die Rede. Dass hier dennoch keine aktualisierte Neuauflage erschienen ist, liegt vor allem an einem überfälligen Paradigmenwechsel: Viele Beiträge versuchen die Besatzung aus der Perspektive der Einheimischen statt derjenigen der Herrschenden nachzuzeichnen. Es finden sich einige vielversprechende Ansätze einer Abkehr von der „staatsfokussierten Sicht“, die Christian Ger­lach in seiner programmatischen Einleitung an der bisherigen Forschung bemängelt. Insbesondere gilt das für den zweiten, mit Reaktionen betitelten Teil; aber auch die Beiträge im dritten Teil, Erinnerung, überwinden immer wieder die Perspektive nationaler Narrative, um konkurrierende Sichtweisen auf die Vergangenheit aufzuzeigen, die trotz des langen zeitlichen Abstandes eine Vielfältigkeit subjektiver Erfahrungen tradieren. Der kulturgeschichtliche Megatrend Erinnerungskultur setzt sich also mit neuen Impulsen fort.

Erfreulicherweise halten auch andere kulturwissenschaftliche Fragestellungen Einzug in das vorliegende Forschungsfeld, namentlich die Geschlechtergeschichte. Regina Mül­häuser argumentiert in ihrem Aufsatz zur sexuellen Gewalt gegen jüdische Frauen gegen das vorherrschende Bild einer im NS-Herrschaftssystem konsequent gelebten Rassenideologie. Im Reich seien die Barrieren für „Rassenschande“ tatsächlich hoch gewesen, in den besetzten Gebieten Osteuropas dagegen nicht. Sexuelle Gewalt habe hier als Zeichen des Sieges und männlicher Stärke gedient; die oft sehr jungen Soldaten versicherten sich in Momenten der Angst oder Langeweile auf derartige Weise ihrer Machtposition. Verfolgt worden seien „Rasseschande“-Delikte in den besetzten Gebieten kaum; von Militärgerichten auf dem Gebiet der Sowjetunion sei kein einziger Fall bekannt. In dem Umstand, dass sexuelle Gewalt auch nach dem Krieg nicht juristisch aufgearbeitet wurde, erkennt Mühlhäuser die Ursache für die ebenfalls ausbleibende historiographische Aufarbeitung.

Irina Rebrova untersucht Überlebensstrategien von Frauen in den besetzten Gebieten und in Partisaneneinheiten. Einleitend widmet sie sich den spannenden Beständen von 20 Zeitzeuginnen-Interviews und auf Geheiß der KPdSU verfassten Erinnerungsberichten ehemaliger Partisanen und Partisaninnen. Allerdings sind die Quellen für die aufgeworfene Fragestellung nicht ideal, da viele heikle Fragen, wie Rebrova selbst anmerkt, in den Egodokumenten ausgespart bleiben. Ihr Verdienst bleibt es, männliche und weibliche Perspektiven auf das Leben der sowjetischen Frauen unter der deutschen Herrschaft in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen. Dass die Zerstörung der traditionellen Rollenmuster im Krieg für weite Teile der weiblichen ländlichen Bevölkerung eine „existenzielle Katastrophe“ (S. 290) darstellte, sie aber mit allen Härten umzugehen wussten, wird zum Heroismus der Frauen erhoben, den sie bisher angesichts des Heroismus der Männer an der militärischen Front nicht einmal selber wahrgenommen hätten. Rebrova löst sich hier zwar vom eingangs ihres Artikels kritisierten Bild des kollektiven Heroismus der sowjetischen Frauen, ersetzt es aber implizit durch ein individualisiertes, in welchem Brüche und Krisen weitestgehend fehlen. Hier hätte eine Reflexion auf der Meta-Ebene gut getan. Diskussionswürdig ist außerdem die biologistische Grundannahme, was Frauen im Krieg sehen und ertragen mussten, hätte im Widerspruch zu einer weiblichen Natur gestanden (S. 279).

Einen dritten, herausragenden Beitrag zur Geschlechtergeschichte der Besatzung liefert Frank Werner. Er untersucht die Rolle von Männlichkeitskonzepten im Vernichtungskrieg anhand von Feldpostbriefen. Weil er ein regelrechtes „Feldpost-Bashing“ in der jüngeren Forschung ausmacht und Gender-Perspektiven auf Wehrmacht und Vernichtungskrieg immer noch randständig sind, sieht er sich genötigt, in einem theoretischen Vorspann die Relevanz dieser Art der Fragestellung zu belegen – und das erweist sich als äußerst fruchtbar. Im Ergebnis liefert Werner neue Erklärungsansätze für die Entgrenzung der Gewalt und die Unwirksamkeit traditioneller soldatischer Moralvorstellungen im Krieg gegen die Sowjetunion und im Besatzungsregime. Ausgangspunkt ist die Überhöhung soldatischer Männlichkeit durch die NS-Ideologie, die die Bewährung im Ostkrieg zum ultimativen Beweis des Mannseins erhoben habe. Die brutale Härte auch im Vorgehen gegen Zivilisten erkläre sich demnach nicht so sehr durch Befehle oder durch Dynamiken der Gewalt, sondern durch den sozialen Imperativ, ein ganzer Mann sein zu wollen: „Mordbefehle zu verweigern, war den Akteuren objektiv möglich, sich dabei als unmännlicher Mann zu offenbaren, galt als subjektiv nahezu unmöglich“ (S. 163). Durch ihre Nichtteilnahme am Frontkampf sahen sich die Soldaten im Hinterland als in ihrem Zugang zu Mannesehre benachteiligt, urteilt Werner, und macht Gewaltdynamiken in der Judenvernichtung und Partisanenbekämpfung auch als Folge „kompetitiver Ersatzstrategien“ aus. Dem abschließenden Diktum Werners, dass die Frage nach dem Handeln männlicher Gewaltakteure nicht ohne eine Analyse ihrer Männlichkeitskonzepte zu beantworten sei, ist voll und ganz zuzustimmen, wie dieser Beitrag mit großer analytischer Tiefe eindrucksvoll beweist.

Markus Eikel widmet sich einem Themenfeld der deutschen Besatzung, welches erst in den letzten 15 Jahren ganz allmählich in den Blickpunkt der Forschung gerückt, im öffentlichen Bewusstsein aber noch kaum verankert ist: Der Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten, in diesem Fall im RKU. Zunächst skizziert er die Rahmenbedingungen (Mangel an Arbeitskräften, Arbeitspflicht, lückenlose Erfassung, Integration lokaler Arbeitsverwaltungen) und zeigt dann, auf welche Weise die einheimischen Kommunalverwaltungen bei der Ermittlung und Rekrutierung von Arbeitskräften behilflich waren. In Kamjanec-Podil’s’kyj, das Eikel beispielhaft anführt, habe es eine Verfügungsgewalt der einheimischen Verwaltung über die jüdischen Ghetto-Insassen gegeben, die bisher nicht gesehen wurde. Dort habe der ukrainische Bürgermeister die einheimische Polizei beauftragt, jüdische Arbeiter aus dem Ghetto zu städtischen Arbeiten heranzuziehen. Besonders dringend benötigte Facharbeiter seien von den Massenerschießungen ausgenommen worden und hätten in einigen Fällen sogar eine Wohnung außerhalb des Ghettos beziehen können. Die abschließende Diskussion des Terminus Zwangsarbeit im Hinblick auf die Arbeitspflicht im RKU führt Eikel, unter Berufung auf die von Tanja Penter dargelegte Kontinuität von Arbeitszwang, dazu, nur die nach Deutschland Deportierten, die jüdische Bevölkerung, die in Zwangsarbeitslagern eingesperrten und die in Marschkolonnen in anderen Landesteilen eingesetzten Einheimischen als Zwangsarbeiter zu klassifizieren. Diese Gruppen hätten nach seinem Dafürhalten in den Entschädigungsprozess mit eingeschlossen werden müssen.

Ein weiterer von der Forschung stark vernachlässigter Bereich ist die Thematik der sowjetischen Kriegsgefangenen, insbesondere auf dem besetzten Gebiet. Jens Nagel führt in seinem Beitrag an, dass nicht einmal genaue Zahlen feststünden, untersucht sodann aber zumindest einen Baustein für exakte Größenangaben, nämlich die Registrierung der Kriegsgefangenen. Sich eingehend mit einer Verwaltungspraxis auseinanderzusetzen, ist definitiv eine trockene Sache, aber in diesem Fall eine wichtige. Auf Grundlage der Datenbank der Stiftung Sächsische Gedenkstätten kann Nagel zeigen, in welchem Umfang schon in den zivilverwalteten Gebieten registriert wurde, allerdings nur für den Gebrauch der örtlichen Kommandanten. Die bisherige Auffassung, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen in den besetzten Gebieten nicht registriert worden seien, entsprang dem Bild ihrer völkerrechtswidrigen Behandlung auf Grundlage rassistischer und politischer Konzepte, so Nagel. Der Wunsch nach effektiver Verwaltung und si­cher­heitspolitische Erwägungen habe eine Registrierung aber oft unentbehrlich ge­macht.

Als letztes in der bisherigen Forschung eher unterrepräsentiertes Themenfeld sei hier die Kollaboration angeführt. Herausgeberin Babette Quinkert untersucht die Aufrufe der Deutschen zur Kooperation an sowjetische Zivilisten und Soldaten anhand zweier exemplarischer Flugblätter. Ihr Vorhaben, daran Ziele und Inhalte der deutschen Propaganda aufzuzeigen sowie Konzepte und Praxis der Deutschen zu beleuchten, setzt sie überzeugend um. Insbesondere stellt Quinkert heraus, dass von Anfang an psychologische Kriegsführung vorgesehen war und umgesetzt wurde – und nicht erst bei ausbleibendem militärischen Erfolg. Abschließend ordnet sie ihre Ergebnisse kritisch in die bisherige Forschung ein. Am kontroversesten ist dabei wohl ihre These, dass Rosenbergs Einfluss bislang zu Unrecht als gering eingeschätzt wurde. Seine Vorgaben hätten dauerhaft zu einer genau zwischen feindlichen und potentiell deutschfreundlichen Gruppen unterscheidenden, „eng mit Terror und Mord verknüpften Propaganda“ (S. 210) geführt. Es ließe sich allerdings einwenden, dass auch wenn Rosenbergs Einfluss auf die Propaganda entscheidend war, die Praxis der Besatzungspolitik anderen Regeln folgte und Menschen oft situativ zu Opfern machte. Im Übrigen lassen sich die Konflikte zwischen den politikleitenden Institutionen des NS-Staates über die Ostpolitik auch als Ausdruck ihres funktionellen Gegensatzes interpretieren (vgl. Andreas Zellhuber: „Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu …“: Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 19411945. München 2006), wodurch Quinkerts These vom zu vernachlässigenden ideologischen Dissens indirekt bestätigt würde.

Schließlich sei noch der Beitrag von Sergej Kudyashov und Matthias Uhl Die russische Kollaboration während des Krieges 1941–1945 erwähnt, mit dem die Autoren einen beinahe weißen Fleck der historischen Forschung betreten. Ihr Aufsatz von gerade einmal zehn Seiten kann zwar keine wesentlichen neuen Erkenntnisse liefern, gibt aber einen Überblick über die schmale Forschung und rückt Themenfelder in den Blickpunkt. Wiederholt wird die Frage nach der Motivation der Kollaborateure gestellt, insbesondere im Hinblick auf eventuell vorhandenen Antisemitismus. Die Antwort der Autoren lautet, dass zumindest keine intrinsische antisemitische Motivation belegt werden könne, die Teilnahme an Verbrechen für die Hiwis eher „ein Schritt der Unterordnung unter das Besatzungsregime und des Beweises ihrer Zuverlässigkeit“ (S. 226) gewesen sei. Angesichts der dünnen Quellenlage und der anzunehmenden Heterogenität der Motive verbieten sich Pauschalurteile hier ohnehin. Lohnenswerter erscheint die knapp angerissene Frage nach der Verfolgung von Kollaborateuren durch die sowjetischen Autoritäten.

Dass diese und andere Fragen gestellt werden, lässt hoffen, dass der nächste Band zur deutschen Besatzung in der Sowjetunion einen ebenso großen Fortschritt der Forschung abbilden wird, wie es der vorliegende im Verhältnis zum vorangegangenen tut, und neue Forschungsergebnisse zu Themen wie der Kollaboration von Hilfstruppen, der kommunalen Verwaltung und auch Folgeprobleme wie Fragen nach Transitional Justice und der Flucht hunderttausender Osteuropäer mit der Wehrmacht gen Westen enthalten wird. Außerdem ist eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Geschichte der sowjetischen Kriegsgefangenen unerlässlich, denn diese Gruppe ist nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Erinnerungskultur außerordentlich unterrepräsentiert.

Jan-Hinnerk Antons, Hamburg

Zitierweise: Jan-Hinnerk Antons über: Babette Quinkert / Jörg Morré (Hrsg.): Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941–1944. Vernichtungskrieg – Reaktionen – Erinnerung. Paderborn: Schöningh, 2014. 416 S., 15 Abb., 2 Tab.. = ISBN: 978-3-506-77780-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Antons_Quenkert_Deutsche_Besatzung_in_der_Sowjetunion.html (Datum des Seitenbesuchs)

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