Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Lilia Antipov

 

Jamie Miller: Soviet Cinema. Politics and Persuasion under Stalin. London [etc.]: Tauris, 2010. XV, 222 S., 14 Abb. = KINO – The Russian Cinema Series. ISBN: 978-1-84885-009-5.

Jamie Millers Darstellung gilt der Filmproduktion in der stalinistischen Sowjetunion. Miller will zeigen, wie die Bolševiki versuchten, ein „Kino für die Massen“ zu schaffen, das ihren politischen Zielen diente, ideologisch akzeptabel, künstlerisch perfekt und ökonomisch gewinnbringend war und zugleich die sowjetischen Zuschauer ansprach.

Die Geschichte dieses Kinos wird vom Autor in acht Kapiteln beschrieben. Kapitel 1 ist zum einen jenen Überzeugungen der Bolševiki gewidmet, die ihrer Politik auf dem Gebiet des Films zugrunde lagen: Miller spricht von einem „defensiven Denken“, dessen Träger er unter bolschewistischen Politikern sowie unter Führungskräften der Filmindustrie und den Filmschaffenden ausmacht. Zum anderen behandelt dieses Kapitel die Entwicklung der materiellen (ökonomischen) und medialen (technischen) Basis der Filmindustrie (beispielsweise den Übergang zum Tonfilm) und des Filmvertriebs (hier die Erfassung des Landes durch ein breites Kinonetz [kinefikacija]) sowie die Verwaltungsstrukturen, unter anderem die seit den 1920er Jahren voranschreitende Zentralisierung und Bürokratisierung der Filmverwaltung. Bereits in jenen Jahren entstand ein mehrstufiges Zensursystem, das der Lenkung und Kontrolle des Filmwesens diente, wobei Stalin seit Anfang der 1930er Jahre als eine von dessen Schlüsselfiguren fungierte. Der Filmzensur ist Kapitel 2 gewidmet. Eine andere Methode, den Film zu kontrollieren, waren die Säuberungen unter den Mitarbeitern der Filmindustrie – davon ist in Kapitel 3 die Rede. Neben solchen brutalen Methoden der Lenkung und der Kontrolle existierten auch ‚subtile‘. Eine von ihnen war die thematische Planung (tematičeskoe planirovanie) der Filmproduktion auf der Ebene der einzelnen Studios, von denen Kapitel 4 handelt. Eine weiteres ‚subtiles‘ Steuerungsinstrument waren die künstlerischen Verbände der Filmschaffenden, in erster Linie der Sojuz rabotnikov kino, der Mitte der 1930er Jahre gegründet wurde. Dies ist das Thema von Kapitel 5. Wie dann die Praxis der Filmproduktion im Einzelnen aussah, zeigt der Autor im Kapitel 6 am Beispiel von zwei Filmstudios – Меžrabpomfil’m und Mosfil’m – auf. Schließlich wendet er sich im 7. Kapitel einem nicht weniger wichtigen ‚subtilen‘ Mittel der staatlichen Lenkung des Filmwesens zu, der Bildung und Erziehung der „künstlerischen Fachkräfte“, denen nach Ansicht der Leitungsinstanzen die Aufgabe zukam, das „wahre sowjetische Kino“ zu schaffen. Filme, die aus diesem gelenkten und kontrollierten System hervorgingen, werden von Miller im letzten, dem 8. Kapitel, betrachtet. Sein analytischer Blick richtet sich dabei nicht auf das Filmnarrativ, sondern auf die politische Funktion des jeweiligen Films.

Dabei räumt der Autor einerseits ein, dass die sowjetische Führungsriege und die Filmbürokratie, die von ihnen ausgeübte Kontrolle über die Filmproduktion und den Filmvertrieb sowie Gewaltmaßnahmen eine große Rolle in der Entwicklung des sowjetischen Films spielten. Andererseits polemisiert er gegen die Totalitarismusforschung sowie gegen den „revisionistischen“ Ansatz zur Geschichte der Stalin-Zeit, was darauf hinausläuft, dass er dem von ihnen entworfenen Bild des sowjetischen Films einige präzisierende Details hinzufügt. So sei in der ersten Hälfte der 1930er Jahre neben den Parteiorganen, zu deren Kompetenzbereich alle Fragen der Kultur gehörten, der Chef der sowjetischen Filmindustrie Boris Šumjackij „die“ Schlüsselfigur des Filmbereichs gewesen. Ungeachtet der Zentralisierung und Bürokratisierung von Verwaltung und Zensur hätten die Filmstudios bis zur Mitte der 1930er Jahre aber eine vergleichbar große Autonomie (in ihren Entscheidungen) besessen. Veränderungen hätten sich erst um 1938 bemerkbar gemacht, als die Zentralisierung des Filmwesens ihren Höhepunkt erreichte, die Direktoren der Filmstudios ihre Macht verloren, und das Filmwesen der Unionsrepubliken dem Moskauer Zentrum untergeordnet wurde. Was die Entwicklung des Kinonetzes angeht, so habe es noch in 1930er Jahren, also viel länger als die Filmproduktion, seine Unabhängigkeit bewahrt – weniger aufgrund einer bewusst „liberalen Linie“ als wegen des Versagens der Führung. So seien auf die sowjetische Filmleinwand auch solche Filme (z.B. ausländischer Produktion) gekommen, deren politischer Nutzen sehr zweifelhaft war. Was den Terror und die Säuberungen in der Filmindustrie während der 1930er Jahre angeht, so macht der Autor insbesondere auf ihren machtpolitischen Aspekt aufmerksam; darauf, dass die Verfolgung von Filmschaffenden häufig weniger mit ihrer Tätigkeit im Film als mit ihren Verbindungen innerhalb der personellen Netzwerke der großen Politik zu tun hatte. Opfer des Terrors wurden daher weniger ‚einfache‘ Mitarbeiter der Filmindustrie, als vielmehr deren Elite, führende Vertreter des Verwaltungsapparats wie der besagte Šumjackij. Strukturelle Schwierigkeiten verhinderten zudem die Umsetzung der thematischen Pläne der Filmstudios, sodass hier nicht im gewünschten Maße für ideologische und politische ‚Reinheit‘ in den Kinos gesorgt werden konnte. Alles andere als einfach gestaltete sich auch die Ausbildung der neuen Fachkräfte „aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu“ und deren Eingliederung in das Filmwesen. Die Gründe dafür lagen nicht nur in der unzureichenden materiellen Basis der Filmstudios, sondern auch – heute kann man dafür nur dankbar sein – darin, dass ein Großteil der Regisseure der älteren Generation, die „alten Fachleute“ (specy) der Filmkunst, vom Terror der 1930er Jahre verschont blieben. Als Folge war das „Aufsteigertum“ (vydviženčestvo) im sowjetischen Film, anders als zum Beispiel in den Staats- und Parteistrukturen, keine so verbreitete Erscheinung und es gelang der neuen, „proletarisch-bäuerlichen“ Generation von Filmschaffenden nicht, sich auf Kosten der alten durchzusetzen.

Permanente Eingriffe der Partei und des Staates und die Zentralisierung und Bürokratisierung des Filmwesens störten dessen normalen Ablauf; sie waren einer der Gründe für dessen Inflexibilität und führten dazu, dass viele Ideen und Konzepte, die in der Theorie entwickelt worden waren, niemals in der Filmpraxis Eingang fanden. Da Ende der 1930er Jahre der Zustand und die Qualität der Filmproduktion noch immer weit hinter den gesteckten Zielen zurückblieben, wurden unter dem neuen Chef der sowjetischen Filmindustrie, dem im Vergleich zu seinen Vorgängern als etwas ‚liberaler‘ geltenden Ivan Bol’šakov, den bedeutendsten Regisseuren mehr Freiheiten und Einflussmöglichkeiten eingeräumt. Um das Niveau der Filmproduktion zu heben, wurden außerdem Maßnahmen zur Erweiterung der Autonomie der Filmstudios getroffen (insbesondere bei der Annahme von Drehbüchern und in Finanzierungsfragen). Die beim Film weiterhin bestehende Zensur verhinderte jedoch die Wahrnehmung dieser Rechte. Darüber hinaus machte der Kriegsbeginn 1941 eine konsequente Durchführung der Reformen im Filmwesen unmöglich.

Klafften die Pläne der Bol’ševiki für die Filmindustrie und deren Wirklichkeit (vor allem aus ökonomischen Gründen) oft auseinander, so blieb auch das „sowjetische Hollywood“, das Boris Šumjackij seinerzeit avisiert hatte, in vielerlei Hinsicht ein Traum. Der sowjetische Film der Stalin-Zeit stellte ein buntes Kaleidoskop aus „Überbleibseln der Vergangenheit“, den teilweise verwirklichten Projekten der Führung, und jenen Phänomenen dar, die auf die Eigendynamik des Filmprozesses und die Kreativität seiner Schöpfer – der Drehbuchautoren, der Schauspieler und der Regisseure – zurückgingen. So kann der Versuch einer Synthese von Politik und Filmunterhaltung weder als eindeutig erfolgreich noch als völlig gescheitert angesehen werden. Die von Miller eingehend analysierten Filme, gleich ob die Rede vom Musical „Zirkus“ (Cirk) ist, das Propaganda und Unterhaltung geschickt kombinierte, oder vom Geschichtsdrama „Der große Bürger“ (Velikij graždanin), waren ästhetisch akzeptabel und eigneten sich für die ihnen gestellten Aufgaben – für die Liquidation des politischen Analphabetismus der Massen, für die Erziehung des Neuen Menschen, für die Legitimation des Stalin-Regimes und seiner Politik. Auf der anderen Seite vermochten alle Vorgaben und Richtlinien auch in der Film­industrie politische oder ästhetische ‚Fehltritte‘ nicht zu verhindern. Filmen wie „Das Gesetz des Lebens“ (Zakon žizni) wurde sogar Systemkritik vorgeworfen. Es waren jedoch auch jene Fälle keine Seltenheit, in denen ein Film durch seine aufgesetzte Didaktik die Zuschauer vergraulte. Von den Teilerfolgen der sowjetischen Filmindustrie ist die Lage beim Ausbau des Kinonetzes zu unterscheiden: Der sowjetische Film wurde bei der Wahrnehmung und Erfüllung seiner Aufgaben dadurch behindert, dass außerhalb der europäischen Landesteile, in der russischen Provinz und in einigen mittelasiatischen Republiken, die notwendige Infrastruktur wie Kinosäle gänzlich fehlte. Auch deshalb hatte es der sowjetische Film schwer, den „Weg zu den Massen“ zu finden.

Millers Darstellung lässt einige Fragen offen. Wie definiert der Autor das sogenannte „defensive Denken“ der Bol’ševiki? Bedeutet es mehr als eine „dogmatische Form des Marxismus“ mit dem „Anspruch auf Wissenschaftlichkeit“? Wer genau vertrat diese Spielart des „Marxismus“? Außerdem scheint die Erklärung vieler ungleichartiger Erscheinungen im sowjetischen Filmwesen mit einem Pauschalprinzip wie dem „defensiven Denken“ zu allgemein, zu vage und zu unspezifisch zu sein. Nicht immer liefert der Autor zudem genügend Belege für die von ihm vorgebrachten Thesen, zum Beispiel bei der Darstellung der Rolle Stalins als Filmzensor oder des Filmgeschmacks der sowjetischen Filmzuschauer.

Lilia Antipow, Erlangen

Zitierweise: Lilia Antipov über: Jamie Miller: Soviet Cinema. Politics and Persuasion under Stalin. London [etc.]: Tauris, 2010. XV, 222 S., 14 Abb. = KINO – The Russian Cinema Series. ISBN: 978-1-84885-009-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Antipow_Miller_Soviet_Cinema.html (Datum des Seitenbesuchs)

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