Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Manfred Alexander

 

Jan Klápště: The Czech Lands in Medieval Transformation. Translated by Sean Mark Miller and Kateřina Millerová. Edited by Philadelphia Ricketts. Leiden, Boston, MA: Brill, 2012. XXXVIII, 524 S., 113 Abb., Kte., Tab. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 17. ISBN: 978-90-04-20347-1.

Die Archäologie iststumm, die auf schriftliche Quellen gestützte Historie istblind– mit dieser knappen Formulierung bringt der Verfasser (S. 371) das Problem auf den Punkt, mit dem er in diesem Werk durch eine Zusammenschau beider historischen Disziplinen seine Forschungsergebnisse abgewinnt, die allein aus schriftlichen Quellen nicht zu ermitteln sind. Nimmt man hinzu, dass der Verfasser manchmal auch methodische und geschichtsphilosophische Fragen erörtert, so ist der Rahmen dieses faszinierenden Buches abgesteckt.

In den Böhmischen Ländern fand im 12. und 13. Jahrhundert ein Kulturwandel statt, der die Vorgeschichte seit der slavischen Besiedlung im 6./7. Jahrhundert durch eine Europäisierung ablöste und die allmähliche Eingliederung der Gebiete der heutigen Tschechischen Republik in den westeuropäischen Kulturraum zur Folge hatte. Diese umfassende These behandelt der Verfasser in drei Problemkomplexen.

Im ersten Themenbereich untersucht er die Veränderung in derMacht der Mächtigen, beginnend mit der Entstehung einer adeligen Elite im Großmährischen Reich. Hinweise darauf findet er in den Gräbern von unmündigen Knaben, die die ihnen dort beigefügten Waffen nie hatten benützen können, aber durch sie als Angehörige der führenden Schicht ausgewiesen wurden. Dies Beispiel ist typisch für die Vorgehensweise des Verfassers, der stets von einem scheinbar unbedeutenden Fund der Archäologen oder einer eher beiläufigen Bemerkung in einer schriftlichen Quelle ausgeht und dann in behutsamer Argumentation manchmal überraschende Zusammenhänge aufdeckt. Aus dieser Elite der vorhistorischen Zeit entwickelte sich ein Hochadel, dessen Macht im 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, ohne dass über die Entstehung des umfangreichen Landbesitzes der führenden Familien viel bekannt ist. Nur bei Konflikten mit dem König und in Schenkungen an die Kirche wird einiges über den verstreuten Besitz deutlich, wie der Verfasser am Beispiel der Familie der Witigonen erläutert. Aus der Entwicklung vom Herrenhof zu einer Burg oder fürstlichen Residenz lassen sich Rückschlüsse auf das Herrschaftsverständnis der Elite ziehen.

Der zweite Themenkomplex behandelt die „gefährdete Welt“ der Bauern. Von den alten Siedlungen in den historischen Landschaften, in denen die slavischen Bauern in archaischer Lebensform in Holz- und Lehmhütten ohne Rauchabzug lebten, die halb in den Boden gegraben waren, verfolgt der Verfasser die Entwicklung des Landesausbaus, bis im 13. Jahrhundert alles fruchtbare Land bearbeitet wurde. Wegen des Mangels an Menschen waren an diesem Ausbau auch Fremde beteiligt, wie Kriegsgefangene aus Polen, Winzer aus Ungarn, holländische Spezialisten für die Trockenlegung von Schwemmland. Während dieser Prozess auf adeligen Gütern kaum dokumentiert werden kann, ist über den Klosterbesitz mehr zu erfahren, wie der Verfasser am Beispiel des Klosters Heinrichsau in Schlesien aufzeigt. Zeichnungen in Handschriften überliefern z.B. die Technik des Rodens und Abbilder von den Werkzeugen. Die Einführung des ius teutonicum schuf Rechtssicherheit, förderte die Verrechtlichung der Gesellschaft, und dieses setzte sich so allmählich im Lande durch. Dies galt auch für technische Neuerungen (z.B. die Sense und die Säge) und moderne Denkweisen, die aufgenommen und adaptiert wurden. Vielfältige Dorfformen entwickelten sich parallel und sind z.T. bis heute anzutreffen. Auch deutschsprachige Siedler wirkten an diesem langwährenden Prozess mit, dominierten ihn aber keineswegs. Der Verfasser begreift ihn als eine europäische Erscheinung und löst ihn damit aus früherer nationalpolitischer Verengung.

Derlange Weg zur Stadtist der dritte Zugang, der mit der Entstehung von frühen Siedlungen beginnt, in denen spezialisierte Handwerker für die Bedürfnisse der Eliten gearbeitet haben. Bereits aus dem 8. Jahrhundert wurden Waren der Metallverarbeitung wie Waffen und Werkzeuge gefunden sowie Keramik, die von ihrem Hersteller gekennzeichnet waren. Objekte dieser Art wurden wohl für den Markt produziert, wo dann der Tauschhandel durch die Geldwirtschaft abgelöst wurde; denn die Bauern mussten z.T. Abgaben in Geld entrichten, und Sklaven konnten sich freikaufen. Ausführlich setzt sich der Verfasser mit der These auseinander, dass in einigen Dörfern Spezialisten angesiedelt worden seien, wie aus vielen Ortsnamen aus Berufsbezeichnungen geschlossen worden ist; er lehnt diese Theorie derDienstdörferals nicht überzeugende Hypothese ab, ohne jedoch das Phänomen selbst erklären zu können (S. 349).

Eine besondere Bedeutung besaß der Fernhandel, der für Prag schon im 9. Jahrhundert zu einem Markt führte, zum Bau einer Holzbrücke über die Moldau und zum Bau von Steinhäusern in der Altstadt. Neben den zentralen Marktplatz baute der Landesherr zum Schutz fremder Kaufleute um 1200 das abgeschlossene Gebiet hinter der Theinkirche (Ungelt). Grabfunde beweisen auch für die frühe Zeit die Anwesenheit von Fremden, darunter auch Juden.

Zur Entwicklung der Hauptstadt finden sich Parallelen in Olmütz und anderen kleinen Städten, die eine große Vielfalt aufweisen und belegen, dass Einheimisches mit Anregungen von außen verschmolzen wurde. Diesen Aspekt einer Europäisierung statt der traditionell betonten Ethnisierung (Rolle der Deutschen) hebt der Verfasser ausdrücklich hervor (S. 442). Fördernde Faktoren für die Entstehung eines dichten Netzes von Kleinstädten waren die Handelswege, der Erzabbau (Silber) und dessen Verarbeitung, sowie der intensive Austausch zwischen Stadt und Land, der in vielen Funden belegt ist. Viele Städte existieren bis heute und haben noch ihre mittelalterliche Erscheinungsform bewahrt. Die Verbindung von Archäologie und Historiographie erweist sich als außerordentlich fruchtbar, denn auf diese Weise werden sonst unbekannte Details des damaligen Lebens buchstäblich ausgegraben: Eine Jakobsmuschel aus Santiago de Compostela auf dem Grund eines Brunnen in Most/Brüx sollte wohl das verseuchte Wasserheilen‘ und trinkbar machen.

Das vorliegende Lebenswerk des Verfassers beeindruckt nicht nur durch die Fülle an Informationen, die das Verständnis der Vergangenheit der Böhmischen Länder auf fast allen Gebieten vertiefen, sondern besonders durch die Argumentation. Archäologie und auf schriftlichen Quellen aufbauende Geschichtsschreibung helfen und korrigieren einander. Wo die national orientierten Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts vielfach Gräben und ethnischen Streit sahen, vermittelt der hier gewählte Ansatz das Bild einer allmählichen Übernahme von materiellen Techniken und modernen Denkweisen, die zu deren Adaptierung an die heimischen Verhältnisse führte, durch die dasAlte‘ irgendwieaufgehoben‘ und an die westeuropäische Welt angeglichen wurde. Das 13. Jahrhundert stellt der Verfasser als eine Trennscheide dar, ab der sich die Europäisierung der Böhmischen Länder vertiefte, die mit der Übernahme des Christentums im 9./10. Jahrhundert begonnen hatte. Diestumme‘ Archäologie kann dabei helfen, den lauten Meinungsstreit wortreicher Historiker durch die ruhige und differenzierte Betrachtung eines lange währenden Prozesses abzulösen. Mit einem Bekenntnis des Verfassers zu einem gesamteuropäischen Geschichtsverständnis und zu einer Koexistenz von Tschechen, Deutschen und Juden in den Böhmischen Ländern endet das Buch.

Manfred Alexander, Köln

Zitierweise: Manfred Alexander über: Jan Klápště: The Czech Lands in Medieval Transformation. Translated by Sean Mark Miller and Kateřina Millerová. Edited by Philadelphia Ricketts. Leiden, Boston, MA: Brill, 2012. XXXVIII, 524 S., 113 Abb., Kte., Tab. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 17. ISBN: 978-90-04-20347-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Alexander_Klapste_The_Czech_Lands_in_Medieval_Transformation.html (Datum des Seitenbesuchs)

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