Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Michel Abeßer

 

Christian Schmidt-Rost: Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2015. XI, 281 S., 3 Abb. = Jazz under State Socialism, 3. ISBN: 978-3-631-65309-8.

Meanings of Jazz in State Socialism. Ed. by Gertrud Pickhan / Rüdiger Ritter. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2016. 227 S. = Jazz under State Socialism, 4. ISBN: 978-3-631-66409-4.

Beide vorliegenden Bücher widmen sich der Geschichte des Jazz im sozialistischen Block nach 1945. Das Erkenntnispotential dieses Themas ist groß – es verbindet Fragen nach der Dynamik des Kalten Krieges, den Möglichkeiten und Grenzen sozialistischer Kulturpolitik und dem Spannungsfeld transnationaler, sozialistischer und nationaler Kultur. Indirekt ist mit der Rezeption, Aneignung und Weiterentwicklung des Jazz das Problem autonomer Kulturproduktion und der Vergemeinschaftung in den sozialistischen Gesellschaften, aber auch von Jugendkulturen, Generationskonflikt und gesellschaftlicher Distinktion verbunden. Der hybride Charakter des Jazz zwischen Populär- und Hochkultur, zwischen US-amerikanischem und nationalen Bezugspunkten und zwischen kollektivem Spiel und Improvisation des Individuums machten ihn bereits für Zeitgenossen extrem deutungsoffen und damit umkämpft. Für den Jazz erwuchs daraus besonders die Assoziation zwischen der Musik und einem vermeintlich rebellischen und antitotalitären Impetus, den politische Akteure auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs forcierten. Über die Narrative der Jazzer selbst hat dieser Zusammenhang seinen Weg bis in die gegenwärtigen nationalen Jazzgeschichten gefunden. Im Umgang mit diesem Narrativen liegt eine zentrale Herausforderung historischer Studien zum Jazz.

Der Sammelband Meanings of State Socialism erwuchs aus dem an der FU Berlin angesiedelten Forschungsprojekt Widerständigkeit durch Kulturtransfer – Jazz im Ostblock. In den insgesamt acht Beiträgen diskutieren die Autorinnen und Autoren über unterschiedliche Zugänge und für verschiedene Zeiträume Fragen nach gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten des Jazz zwischen 1945 und 1990/91 in der Sowjetunion, dort speziell in Estland, in Ungarn, der DDR, der ČSSR und der VR Polen, wobei letztere die Beiträge dominiert. Die Herausgeber Getrud Pickhan und Rüdiger Ritter entfalten in der Einleitung das Panorama an Bedeutungen, die dem Jazz zugeschrieben wurden und ihn für die Geschichtsschreibung zum 20. Jahrhunderts so ergiebig machen können. Sie machen vier Felder aus, in denen er politische und gesellschaftliche Konflikte generieren konnte. Dazu zählen die Assoziation mit Sexualität, die nationalkonservativen Kräften im Westen genauso wie stalinistischen Funktionären eine Angriffsfläche bot, und der Vorwurf der Primitivität, den besonders die Eliten der Hochkultur bemühten. Auch verschob der Jazz als Symbol für Modernität mögliche politische Orientierungen – nicht mehr nur die Sowjetunion, sondern auch die USA konnten über ihn als moderne Alternative zu Europa gedacht werden. Schließlich stellte der Jazz den Sozialistischen Realismus als die affirmative Kulturdoktrin des sowjetischen Blocks in Frage. Es ist daher folgerichtig, nicht einfach ein Scheitern sozialistischer Kulturpolitik gegenüber dem Jazz zu postulieren, sondern nach Grenzen und Möglichkeiten der Rezeption und Adaption in den einzelnen nationalen Kulturen des Ostblocks zu fragen. Den folgenden Fallstudien gelingt das in unterschiedlichem Maße.

Der erste Beitrag von Rüdiger Ritter ist keine Fallstudie, sondern vertieft die in der Einleitung angerissenen Überlegungen zum Jazz in Osteuropa zwischen 1945 und 1990/91. Anhand von drei Ebenen (globaler Politik im Kalten Krieg, den staatssozialistischen Gesellschaften und den stilistischen und sozialen Implikationen der Musik selbst) fragt der Autor, wie die Interaktion von Musikern, Hörern und Vertretern der Staatsmacht politisch zu verstehen sei. Ritter plädiert dafür, Jazz nicht auf einen Indikator für nonkonformes Verhalten zu reduzieren, sondern ihn „als großes Spielfeld in den Staaten des Ostblocks für künstlerische und soziale Möglichkeiten zu verstehen“ (S. 18). Jazz, so kann der Autor überzeugend am Beispiel der Radiosendungen von Willis Conover bei der Voice of America und deren Verwendung in sozialistischen Radiostationen darlegen, profitierte letztlich eher von der propagandistischen Auseinandersetzung des Kalten Kriegs, als dass diese ihm schadeten. Als der Jazz durch den Boom des Rocks ab Anfang der sechziger Jahre sein Alleinstellungsmerkmal als Musik für jugendliche Distinktion verlor und die von den sozialistischen Kulturpolitiken unterstützte Nationalisierung des Jazz voranschritt, waren es nach Ritter besonders die transnationalen Netzwerke um Conover und die die mit ihm verbundenen Musiker und Organisatoren, die die subtile Langzeitwirkung des Jazz ausmachen. Marta Domurat-Linde offeriert in ihrem aufschlussreichen Beitrag eine kritische Lesart des Jazz, die der Leser in manchem anderen teilweise vermisst. Auf der Suche nach den narrativen Elementen des Mythos Polski Jazz rekapituliert die Autorin die Geschichte des polnischen Jazz nach dem Krieg, kontrastiert zahlreiche Mystifizierungen mit der historischen Realität und erklärt, wie die Musik im nationalen Bewusstsein zum kulturpolitischen Aushängeschild des heutigen Polens werden konnte. Der Beitrag von Igor Pietraszewski ist schwieriger einzuschätzen, weil er eher eine chronologische Übersicht über den polnischen Jazz und den sich wandelnden gesellschaftlich-politischen Status der Musik bietet. Das weitgehende Fehlen von Belegen erschwert es, den postulierten soziologischen Ansatz des Textes zu erkennen und ihn mit den anderen Beiträgen zu verknüpfen. Gergö Havadi hat den umfangreichsten Beitrag des Bandes zur Entwicklung des Jazz in Ungarn geliefert. Dort durchlief die Musik zwischen 1945 und 1948 zunächst eine Boomphase, die an die Rezeption des Jazz in den dreißiger Jahren anknüpfen konnte. Bis Mitte der fünfziger Jahre wiederum versuchte die aus Moskau mitinitiierte antiwestliche Kulturpolitik den Jazz aus dem musikalischen Leben zu verdrängen, freilich ohne dies angesichts informeller Arrangements in Restaurants, einer Untergrundszene oder der Jazzsendungen der Voice of America auch durchsetzen zu können. Insgesamt erscheint dem Leser der ungarische Fall zwischen der sowjetischen und der polnischen Entwicklung angesiedelt: Wie in der Sowjetunion war es der kommunistische Jugendverband, unter dessen Patronage zu Beginn der sechziger Jahre Jazzcafés entstanden, um den erzieherischen Einfluss auf die Jugend zu erhöhen. Die vom Autor angeführten Zahlen von 100 Jazzklubs in den achtziger Jahren, viele davon freilich nur auf dem Papier existent, und die Liste prominenter internationaler Jazzstars auf ungarischen Bühnen erinnern hingegen eher an polnische Verhältnisse. Peter Motyčka erörtert mit der Geschichte der tschechoslowakischen „Jazzsektion“ einen der wenigen Fälle nach dem Ende der Entstalinisierungskrisen in Osteuropa, in denen eine Organisation von Jazzprotagonisten in offene politische Konflikte mit Partei und Staat geriet. Die zwischen 1971 und 1984 bestehende Sektion avancierte rasch zum Organisationszentrum autonomer Kultur in der ČSSR, die sich nicht nur auf Musik beschränkte, sondern auch Malerei und Theater einschloss, und zwischen diesen Genres und einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln wollte. Anhand der von der Sektion organisierten Prager Jazztage kann Motyčka besonders anschaulich das Selbstverständnis von Künstlern im Zeitalter der „Normalisierung“, ihre Publikationsformen, aber auch die Binnenkonflikte zwischen involvierten Künstlern aufzeigen, die von den Sektion moderiert wurden und die man gegen Maßnahmen des Staates abzuschirmen versuchte. Erst die Vernetzung der „Jazzsektion“ mit Organisationen wie Amnesty International und Helsinki Watch, die Auflösung der Sektion 1984 und die folgenden Gerichtsprozesse trugen, so er Autor, zur Desintegration des sozialistischen Systems der ČSSR bei. Im seinem dritten Beitrag zur Entwicklung des Jazz in der UdSSR diskutiert Rüdiger Ritter die Relevanz von Aushandlungsprozessen in der Nachstalinzeit, die hinter verschlossenen Tür eine Anerkennung des modernen Jazz möglich machten. Dafür erörtert Ritter exemplarisch eine Konferenz des sowjetischen Komponistenverbands im Jahre 1962, die Einrichtung von Jugendcafés durch den Komsomol, die ersten Jazzfestivals in Moskau in der liberalen Frühphase der Brežnev-Zeit, den Besuch von Willis Conover in Moskau und die Entstehung eines Ausbildungssystems für Jazzmusik Ende der 1960er Jahre. Einen der spannendsten Beiträge des Bands lieferte Heli Reih­mann mit seiner mikrogeschichtlichen Fallstudie zum „Swingclub“ in Tallinn zwischen 1947 und 1956. Diese informelle Vereinigung von Musikern und Jazzfans unter Leitung des Multiinstrumentalisten Uno Naissoo spielte nicht nur Jazz, sondern diskutierte und publizierte auch theoretische Texte über die Musik in einer für estnische Künstler kritischen Phase, in der die antiwestliche Kampagne des Kremls parallel zur Sowjetisierung Estlands abliefen. Es erscheint unter diesen Umständen auf den ersten Blick umso kurioser, dass die Vertreter des Swingclubs in ihren Texten eine äußerst ablehnende (und dem sowjetischen Standpunkt auffallend ähnliche) Position gegenüber modernem improvisierten Jazz wie dem Beebop einnehmen. Dessen vermeintlich intrinsische Assoziation mit Freiheit erscheinen im Spiegel der Fallstudie als politische Konstruktionen der Führungen in Washington und Moskau. Naissoo und seine Mitstreiter sahen die musikalische Zukunft des Jazz eher im Swing und der Adaption nationaler Melodien, die ihre Wurzeln in der estnischen Zwischenkriegszeit hatten und erst in den fünfziger Jahren für die sowjetische Kulturpolitik ein Werkzeug zur Domestizierung des amerikanischen Jazz werden sollte.

Die Herausgeber haben mit dem Sammelband ein klares Plädoyer für das historische Potential des Themas abgegeben. Deutlich ist geworden, dass die nationalen Regierungen bei ihrer Kulturpolitik gegenüber dem Jazz nach Stalins Tod weitestgehend ohne Hilfe oder Anleitung des großen Bruders agieren konnten, was besonders die Unterschiede zwischen der DDR einerseits und Polen/Ungarn andererseits zeigen. Eine Herausforderung des Zugangs sind zweifelsfrei die unterschiedlichen Untersuchungszeiträume und die verschiedenen kulturellen Kontexte der sozialistischen Staatswesen, die nicht in allen Beiträgen immer klar zum Vorschein kommen und somit die Vergleichbarkeit erschweren. Damit verbunden ist die Frage, was Jazz aus Sicht der Geschichtswissenschaft und der Zeitgenossen eigentlich ist. Der Band lotet intensiv das Verhältnis von amerikanischem Vorbild und seiner Transmission und Adaption in den nationalen Szenen aus. Um die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Jazz im Staatssozialismus zu verstehen (und vielleicht auch stärker unterschiedliche Ausgangsbedingungen nach 1945 herauszuarbeiten), sind auch jene Hybride aus Jazz und Unterhaltungsmusik, die in den zwanziger und dreißiger Jahren entstanden, wichtig. In vielen der ideologischen Kampagnen gegen den Jazz in den vierziger und fünfziger Jahren wussten die Funktionäre nämlich die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung hinter sich. Moderner Jazz war nicht nur eine politische sondern auch eine akustische Herausforderung. Deutlich wird das am Beispiel der sowjetischen Ėstrada der dreißiger Jahre, die ohne direkte Richtlinien des Regimes entstand (weswegen Isaak Dunaevskij also auch nicht „kollaborierte“ [S. 23]) und so erfolgreich war, dass sie bis heute mit Sovetskij Džaz assoziiert wird. Die Debatten um die Neuerfindung des sowjetischen Jazz in den fünfziger und sechziger Jahren sind ohne deren Akteure und die argumentativen Rückbezüge auf sie nicht zu erklären.

Auch die Monografie von Christian Schmidt-Rost ist als Dissertation aus diesem produktiven Forschungsprojekt erwachsen. Er untersucht in vergleichender Perspektive und unter Zuhilfenahme transfergeschichtlicher Zugänge die Entwicklung des Jazz in der DDR und der Volksrepublik Polen zwischen 1945 und 1989/90. Neben zeitgenössischen Artikeln zum Jazz aus der ostdeutschen und polnischen Presse hat Schmidt-Rost umfangreich in zentralen deutschen und polnischen Archiven zur Geschichte der sozialistischen Epoche, sowie in ausgewählten amerikanischen Jazzarchiven recherchiert, um die Perspektive der Partei, der Massenorganisationen und der staatlichen Medien sowie die transnationalen Aspekte des Jazz auszuleuchten. Etwas unverständlich ist der weitgehende Verzicht auf Interviews mit Jazzmusikern und -aktivisten mit dem Hinweis, dass deren Quellenwert durch die Verfestigung der Narrative nach vielen Interviews gering sei. Gerade aber diese Narrative sind zur Dekonstruktion der Inszenierung des Jazz als oppositioneller Kulturpraxis sehr wichtig. Der Autor verspricht „Erkenntnisse darüber, welche Faktoren den Umgang mit dem Jazz entscheidend beeinflussten, da in den beiden Ländern auf ähnliche Ausgangslagen sehr unterschiedliche Entwicklungen folgten.“ (S. 3). Um diese Diskrepanz – Polen entwickelt sich nach 1956 zum Mekka des Jazz im Ostblock, während die DDR-Politik sich noch bis in die siebziger Jahre schwer mit dem Jazz tat – zu erklären, fragt der Autor einerseits nach Wegen und Modalitäten, wie Jazz den Eisernen Vorhang durchdrang, vor Ort rezipiert und adaptiert wurde; und andererseits, welche Impulse von den lokalen Jazzkulturen für unregulierte und grenzübergreifende Kommunikation ausgingen. Im ersten Hauptkapitel Zugang verfolgt der Autor Wege, Medien und Praktiken, die den Jazz nach 1945 in die beiden Staaten brachten. Aus den hier diskutierten Medien des Radios, der Schallplatte und des Film sticht Schmidt-Rosts Untersuchung der amerikanischen YMCA-Strukturen als Orte des Transfers in Polen heraus, das anders als die DDR mit dem offenen Westberlin über wenig Orte verfügte, wo das Hören von Live-Jazz und ein direkter Austausch möglich waren. Im zweiten Hauptteil zur Aneignung zeichnet der Autor nach, wie sich Musiker das Spielen von Jazz erarbeiteten, Platten sammelten und sich der Habitus einer Jazz-Szene entwickelte. Eine spezifische kulturelle Praxis, die für erste Symbiosen zwischen Jazz und Staat standen, waren die sogenannten Plattenvorträge, bei denen Schallplatten kontextualisiert und kommentiert wurden. Schmidt-Rosts Befund, dass sich der zunehmend hochkulturell inszenierte Jazz als positives Beispiel der Kulturpolitik besonders gegen die aufkommende Rockkultur instrumentalisieren ließ, deckt sich mit der Entwicklung in anderen sozialistischen Staaten der fünfziger Jahre. Der Autor kann auf unterschiedlichen Ebenen überzeugend nachweisen, das 1956 zum Schlüsseljahr wurde, ab dem sich die Geschicke des Jazz in beiden Staaten unterschiedlich entwickeln sollten: In der DDR stellte 1957 der Konflikt um den erfolgreichen, aber auch politisch offensiv auf­tretenden Jazzpromoter Reginald Rudorf die Jazzcommunity lange unter Generalverdacht und erschwerte die politische Anerkennung des Jazz noch bis in die siebziger Jahre. In einem quellengesättigten und spannenden Exkurs erläutert der Autor die anhaltende politische Sprengkraft des Jazz am Beispiel der sogenannten Jazzgottesdienste. In Polen wiederum entstand ein dichtes Netz an Klubs und staatlich unterstützten Festivals, sowie die Polnische Jazz-Föderation, die als wirtschaftlich eigenständige Organisation mit eigener Fachzeitschrift und eigenem Mitarbeiterstab das gesamte polnische Kulturleben mitprägte. Das letzte Hauptkapitel Jazzer im transnationalen Kommunikationsraum macht die Diskrepanz zwischen den Jazzszenen beider Staaten noch einmal deutlich, war es doch besonders das polnischen Jazz-Jambore-Festival in Warschau, bei dem regelmäßig westeuropäische und amerikanische Jazzbands zu sehen waren und welches den Musikern die Möglichkeit zum Austausch und zur Vernetzung eröffnete. Hervorzuheben ist hier das Kapitel zur Europäischen Jazzföderation, deren Entstehung und Existenz als blockübergreifende Kulturorganisation der Autor erstmals untersucht hat. Etwas ernüchtert bleibt man leider nach der Lektüre des Fazits, in dem lediglich die Ergebnisse sehr knapp zusammengefasst werden, ohne die im Text angelegten spannenden Befunde zum Vergleich zwischen Polen und der DDR und ohne die möglichen Rückschlüsse vom Umgang mit dem Jazz auf den Charakter der Beziehungen zwischen Regime und Bevölkerung systematisch aufzuarbeiten und in den Forschungsstand einzuordnen.

Fraglich bleibt, ob sich die verzögerte Entwicklung des Jazz in der DDR im Vergleich zu Polen tatsächlich nur mit der Angst der Funktionäre vor unabhängig organisierten Gruppen von vermeintlich potentiellen Dissidenten erklären lässt. Die deutsch-polnischen Unterschiede erklären sich möglicherweise auch aus spezifisch deutschen Vorstellungen von kulturellen Hierarchien und Amerika-Bildern, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichen und mit denen sich Autoren wie Kaspar Maase schon innovativ auseinandergesetzt haben. Schmidt-Rost hat dankenswerter Weise keine weitere Heldengeschichte der Jazzer im Ostblock geschrieben – er diagnostiziert, dass die Jazzer in den siebziger Jahren Teil des privilegierten Establishments waren. Dennoch vermisst man beim Lesen über viele Seiten diese kritische Distanz, wenn er häufig mit Begriffen wie „die Herrschenden“ und das „Regime“ operiert. Die Konstellationen bei den staatlichen Akteuren waren komplexer, wirtschaftliche Interessen kollidierten mit ideologischen Vorgaben und die Musiker sahen sich nicht nur politischem Druck, sondern auch der Skepsis des Publikums ihrer Elterngeneration ausgesetzt. Dieses Problem stellte sich dem Jazz übrigens ebenso in den westeuropäischen Staaten, zum Vergleich mit denen das Buch durchaus anregt. Man kann die kulturellen Praktiken von Vorträgen der staatssozialistischen Jazzer, die der Autor reflektiert darstellt, nun als pragmatisches Abgreifen möglicher Ressourcen eines zu verachtenden Kulturapparates abtun oder aber noch einmal nach ideologischen Schnittflächen zwischen Jazzpredigern und dem sozialistischen Kulturkanon fragen. Nicht nur erhielt der Jazz, einmal als Kunstmusik deklariert, durch die kulturelle Hierarchie der Musik im Sozialismus einen höheren Stellenwert als der Beat, sondern auch die kulturellen Praktiken von Bildung und Aufklärung des Publikums weisen Schnittstellen zum sozialistischen Jugendideal der Nachstalinzeit auf.

Michel Abeßer, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Michel Abeßer über: Christian Schmidt-Rost: Jazz in der DDR und Polen. Geschichte eines transatlantischen Transfers. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2015. XI, 281 S., 3 Abb. = Jazz under State Socialism, 3. ISBN: 978-3-631-65309-8; Meanings of Jazz in State Socialism. Ed. by Gertrud Pickhan and Rüdiger Ritter. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2016. 227 S. = Jazz under State Socialism, 4. ISBN: 978-3-631-66409-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Abesser_SR_Jazz_im_Sozialismus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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