Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 654-656

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Adrianna Agata Michel: Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten. Eine völkerrechtliche Analyse zur Staatensukzession. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2015. XXXVII, 601 S., 10 Ktn., 3 Tab. = Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht, 112. ISBN: 978-3-631-65467-5.

Gleich der erste Satz dieser Dissertation macht den Rezensenten in seinem Selbstverständnis als Historiker stutzig. Denn die Autorin spricht, ohne den geringsten Zweifel an der Richtigkeit dieser Aussage, von der „polnischen Nation“ und deren bewegter Geschichte, „die um das Jahr 1000 begann“ (S. 1). Diese Irritation hat immerhin ihr Gutes. Sie macht gleich zu Beginn deutlich, dass wir es hier nicht mit einer Abhandlung zu tun haben, die fachhistorischen Rationalitätskriterien genügen will – und dementsprechend auch nicht daran gemessen werden sollte.

In Aufbau und Duktus erinnert die Arbeit vielmehr an ein juristisches Rechtsgutachten, das vor einem Gericht die ununterbrochene Staatensukzession Polens seit dem ausgehenden Mittelalter belegen soll. Jedem Rechtsgutachten muss eine rechtliche Norm zugrunde liegen. Im vorliegenden Falle sind dies die Kategorien und Begriffsbildungen der modernen Völkerrechtslehre, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert ausgebildet haben. Anhand dieser Kategorien analysiert die Autorin Vertrags- und andere Rechtstexte seit der Union von Krewo 1385 bis hin zu den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg.

Fein strukturiert legt Michel jeweils den Inhalt eines solchen Rechtstextes aus („Rechts­grundlage“), bewertet ihn anschließend nach den Kriterien de iure und de facto, um schließlich zu einer „Stellungnahme“ oder „Schlussfolgerung“ zu gelangen. Im Rahmen dieser Stellungnahmen haben, wie es sich für ein Parteigutachten gehört, Begriffe wie „Rechtmäßigkeit“ oder „Verstoß“ (zum Beispiel gegen einen Vertrag oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker) ihren selbstverständlichen Platz. (Leider hat der Verlag seine editorische Verantwortung nicht wahrgenommen und die eigentlich hierarchische Struktur des Rechtsgutachtens im Inhaltsverzeichnis wenig übersichtlich abgebildet. So verwirren die vielfältigen Gliederungsebenen letztlich mehr, als dass sie der Orientierung dienen.)

Dem Rezensenten, zugegeben einem Nicht-Juristen, scheint es, dass ein Rechtsgutachten im vorliegenden Stile zur Erklärung historischer Entwicklungen wenig Erhellendes beizutragen vermag. Die wenig erfolgversprechende – und mit der Zeit auch ermüdende – Methode Michels, in einem gleichsam strafrechtlichen Indizienprozess ein Plädoyer für die Unversehrtheit des Opfers (Polen) im Konjunktiv zu halten, sei am Beispiel der Ausführungen zur Dritten Polnischen Teilung von 1795 vorgeführt.

Zuerst formuliert die Verfasserin ihre Leitfragen zu diesem Thema: „Fraglich ist, wie die letzte Teilung […] hinsichtlich des Sukzessionsvorgangs zu bewerten ist. Zunächst wird untersucht, ob die Teilungsmächte die Gebiete annektiert haben könnten [sic!]. Da bei der letzten Teilung das komplette polnisch-litauische Staatsgebiet von den Nachbarmächten besetzt wurde, muss geprüft werden, ob der polnische Staat durch die dritte Teilung untergegangen ist [sic!].“ (S. 353) Und ihr Zwischenergebnis zehn Seiten später: „Der polnisch-litauische Unionsstaat ist im Jahre 1795 nicht als Staat untergegangen. Der polnische Staat existierte wegen der Völkerrechtswidrigkeit der dritten Teilung de iure fort. Da im Jahre 1795 noch nicht absehbar war, ob die Teilungsmächte effektive Staatsgewalt über die besetzten Gebiete ausüben würden, ist von der Kontinuität des polnischen Staates auszugehen. Ein anderes Ergebnis könnte erst aus einer ex post-Betrachtung der Teilungsgebiete resultieren, wenn die Teilungsmächte die Gebiete tatsächlich erfolgreich in ihre Territorien einverleibt hätten.“ (S. 364) Dass der polnische Staat nach 1795 de iure weiter existierte, begründet Michel schließlich mit einem Hinweis auf die fehlende Zuständigkeit des Wiener Kongresses 1815 in dieser Frage: „Im Ergebnis konnten die Teilnehmerstaaten des Wiener Kongresses die rechtswidrige endgültige Aufteilung Polen-Litauens im Jahre 1815 aufgrund der fehlenden territorialen Kompetenz nicht nachträglich legitimieren, sodass der polnische Staat nicht im Jahre 1795 untergegangen ist, sondern noch fortbestand.“ (S. 409). Diese Argumentation wird schließlich mit Blick auf die Entwicklungen im 19. Jahrhundert fortgesetzt: So habe das Organische Statut von 1832 gegen die Beschlüsse des Wiener Kongresses verstoßen und sei damit völkerrechtswidrig gewesen – der polnische Staat habe also auch danach de iure weiter bestanden (S. 431–432). Usw. usf. Streng juristisch mag dies ja alles stimmen, aber welcher historische, realitätsbezogene Erkenntnisgewinn ergibt sich daraus? Und: Spielt sich Geschichte im Konjunktiv ab?

Wenig verwunderlich lautet gleichsam das Schlussplädoyer der Autorin für die ununterbrochene Staatlichkeit Polens: „Das Beispiel Polen verdeutlicht, dass der Wille des polnischen Volkes, am Staat festzuhalten, den dauerhaften Untergang des polnischen Staates verhindern konnte und seine Wiedererrichtung ermöglichte.“ (S. 513)

Dem inhaltlichen Hauptteil der Dissertation (Völkerrechtliche Würdigung der Vorgänge in Polen, S. 245–505) gehen zwei Abschnitte voraus, die für die Buchpublikation anders hätten gestaltet werden können. Den ersten Teil Historische Entwicklung Polens (S. 13–108) hätte man der Redundanzen wegen inhaltlich besser mit dem Hauptteil verschränkt. Denn um einen Überblick über die Geschichte Polens zu erhalten, wird man gewinnbringender auf andere Titel zurückgreifen, die den Forschungsstand berücksichtigen. Im zweiten Teil Staaten und Staatensukzession (S. 109–244) referiert die Autorin die Ergebnisse des theoretischen Völkerrechts zu Fragen des Staatsbegriffs, der Erscheinungsformen von Staaten, zum Untergang von Staaten, zur Staatensukzession und so weiter. Auch hier wäre eine bessere Verzahnung dieses weitgehend die Rechtstheorie rekapitulierenden Abschnitts mit dem Hauptteil der Abhandlung dem Ganzen nur förderlich gewesen.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Adrianna Agata Michel: Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten. Eine völkerrechtliche Analyse zur Staatensukzession. Frankfurt a.M. [usw.]: Peter Lang, 2015. XXXVII, 601 S., 10 Ktn., 3 Tab. = Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht, 112. ISBN: 978-3-631-65467-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Werdt_Michel_Polens_Staatlichkeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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