Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 485-487

Verfasst von: Wolfram von Scheliha

 

Rudolf A. Mark: Im Schatten des „Great Game“. Deutsche „Weltpolitik“ und russischer Imperialismus in Zentralasien 1871‒1914. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 504 S., Tab., 1 Kte. ISBN: 978-3-506-77579-5.

Als Bundesverteidigungsminister Peter Struck 2002 markig erklärte, im Kampf gegen den globalen islamistischen Terrorismus werde Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt, war wohl nur wenigen, und dem Minister selbst wahrscheinlich auch nicht, bewusst, dass schon einmal, hrend der Globalisierungsphase in der zweiten lfte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Zentralasien in der deutschen Außenpolitik eine vergleichsweise große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, wenn auch in einer ganz anderen Weise als zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Rudolf A. Mark kommt mit seiner Hamburger Habilitationsschrift das Verdienst zu, diesen fast vergessenen Aspekt grundlegend aufgearbeitet zu haben.

Nach zwei kleineren Einführungskapiteln über die Errichtung der russischen Herrschaft in Zentralasien und die Anwesenheit von Deutschen in Russisch-Turkestan und Afghanistan ist der eigentliche erste Hauptteil des Buches der Frage gewidmet, in welcher Weise Turkestan und Zentralasien insgesamt in der deutschen Publizistik des 19. Jahrhunderts thematisiert wurden. Als Schauplatz desGreat Game, des großen Ringens zwischen dem Zarenreich und Großbritannien über einen russischen Zugang zumwarmen Meer, erregten Nachrichten aus dem fernen Zentralasien,wo Völker aufeinanderschlagen, in deutschen Bürgerstuben ein wohliges Schauern. Immerhin ließ sich die beachtliche Zahl von 155 Studien zu Zentralasien ermitteln, die zumeist von Militärs, Diplomaten, Wissenschaftlern, Journalisten und anderen Forschungsreisenden zwischen 1871 und 1914 verfasst worden sind. Mark unterteilt die Publizistik in zwei Phasen. In der ersten stand im Mittelpunkt des Interesses, wie Russland immer weiter nach Zentralasien vordrang und die Gebiete seinem Reich eingliederte oder von sich abhängig machte. Hier hatte Deutschland eher eine Beobachterrolle. Die zweite Phase war dagegen durch die aktive Welt- und Orientpolitik unter Kaiser Wilhelm II. bestimmt. Insgesamt sahen die Autoren Russlands Expansion überwiegend als legitim an und schrieben dem Zarenreich sogar eine zivilisatorische Mission bei denasiatischen Barbarenzu. Für Russland weniger schmeichelhaft war, dass es, anders als etwa England, wegen seiner Nähe zu den asiatischen Völkern als geradezu prädestiniert für eine solche Aufgabe angesehen wurde. Zwar wurde Russland dabei der gesamteuropäischen Zivilisation zugeordnet, doch ist hier die traditionelle Kulturgefälletheorie deutlich erkennbar. Vor allem um die Jahrhundertwende fanden sich in der Publizistik vermehrt auch großartige Visionen von neuen Eisenbahntrassen über den gesamten eurasischen Kontinent und von neuen großen Absatzmärkten im fernen Osten.

Den eigentlichen Schwerpunkt der Studie bilden jedoch die beiden Kapitel über die deutsche Zentralasienpolitik. Als Zäsuren dienen hierbei zum einen die Entlassung Bismarcks im Jahr 1890 und zum anderen der Beginn des Ersten Weltkrieges. Mark arbeitet präzise Bismarcks Standpunkt zu Zentralasien heraus: Zwar sah der Reichskanzler dort keine unmittelbaren deutschen Interessen involviert, doch hielt er es für nötig, die Lage dort genau zu beobachten. Wie bei derorientalischen Frageverfolgte er dabei die Politik, die Konflikte zwischen Russland und Großbritannien offen zu halten, um auf diese Weise in Europa eine politische Einkreisung Deutschlands zu verhindern und den Frieden aufrechtzuerhalten. Andererseits wollte Bismarck einen bewaffneten Konflikt in beiden Arenen unbedingt vermieden wissen, denn in einem solchen Fall bestand die Gefahr, dass der Krieg sich ausweitete und auch auf andere Gebiete und gar nach Mitteleuropa überschwappte. Mark zeigt im Zusammenhang mit dem Berliner Kongress von 1878 sehr deutlich die enge Verflechtung derOrientalischen Fragemit der russischen Zentralasienpolitik auf: Konnte Russland seine Ziele auf dem Balkan nicht erreichen, drohte als eine Art Kompensation ein Eindringen in britisches Interessengebiet in Zentralasien. Allerdings war es von Berlin aus nur schwer einzuschätzen, ob ein russischer Vorstoß in Richtung Afghanistan und Indien realistisch war oder ob es sich angesichts der absehbaren erheblichen militärischen Schwierigkeiten einer solchen Operation dabei nur um eine Drohkulisse handelte. 1885 kam es in der Panjdeh-Krise zu einem russisch-afghanischen Scharmützel, doch durch indirektes Eingreifen Deutschlands und anderer Mächte konnte eine Ausweitung des Konflikts vermieden werden. Stattdessen legte anschließend eine russisch-britische Kommission die noch heute gültigen Grenzen fest.

Die Entlassung Bismarcks im März 1890 führte zu einer Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik. Kaiser Wilhelm II. zeigte, wie Mark darlegt, ein persönliches Interesse an der Entwicklung in Zentralasien und schien geradezu auf einen russisch-britischen Krieg hinzufiebern (Der Himmel gebe es! Das wäre ja herrlich!, S. 244, Anm. 29). Großbritannien, so das Kalkül des Monarchen, wäre dadurch veranlasst worden, eine größere Nähe zu Deutschland zu suchen. Eine andere Option war eine Wiederannäherung an Russland, was auch in Hinblick auf die Handelswege nach China über Land attraktiv war. Auch als weitere russisch-britische Grenzvereinbarungen einen Krieg immer unwahrscheinlicher werden ließen, setzte die deutsche Diplomatie mit dem Kaiser an der Spitze weiterhin eben darauf. Im Ergebnis trug diese auf erstaunlichen Fehleinschätzungen beruhende Haltung mit zur Isolation des deutschen Kaiserreiches bei.

Im letzten Abschnitt dieses Kapitels widmet sich Mark den wirtschaftlichen Beziehungen. Während die deutsche Publizistik Zentralasien als eine wichtige Zukunftsregion für deutsche Handels- und Wirtschaftsinteressen präsentierte, sah die Realität weitaus bescheidener aus. Dies lag auch an russischen Beschränkungen für ausländische Aktivitäten in den neueroberten Kolonien. Aber auch die deutsche Regierung ordnete die Handelspolitik den machtpolitischen Interessen unter. Nicht zuletzt hätten, so Mark, auch die deutschen Diplomaten durch ihr Auftreten und ihre mangelnde Kompetenz dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen geschadet. Mark listet aber immerhin knapp vierzig deutsche Unternehmen in den zentralasiatischen Gebieten auf, von denen die Mehrheit der Produktion, Verarbeitung und dem Handel von Baumwolle zuzuordnen ist. Aber letztlich stießen die Handelsaktivitäten auch wegen der noch nicht genügend ausgebauten Infrastruktur an ihre Grenzen.

Rudolf A. Mark hat eine breit recherchierte und sehr materialreiche Studie vorgelegt, die nicht nur auf deutschen, sondern auch auf russischen Archivalien aus Moskau und Taschkent basiert. Obwohl er mit der Darstellung der deutschen Publizistik und der wirtschaftlichen Beziehungen zu Zentralasien auch zwei weitere Aspekte beleuchtet, haben die beiden Hauptkapitel eher den Charakter einer traditionellen Diplomatiegeschichte. Hier kommt die inhaltliche Verknüpfung der drei genannten Teile streckenweise zu kurz. Hilfreich wäre es gewesen, wenn zur Visualisierung der manchem Leser wohl nicht geläufigen geographischen Verhältnisse in Zentralasien dem Text etwas großzügiger Karten beigegeben worden wären. Bedauerlich ist darüber hinaus, dass das gestiegene Interesse an Zentralasien nicht in den Kontext der um die Jahrhundertwende entwickelten geopolitischen Konzepte etwa von Friedrich Ratzel und Halford Mackinder gestellt worden ist. Denn beide Autoren hielten die politische Kontrolle Zentralasiens für einen entscheidenden Faktor, um Weltmachtambitionen zu verwirklichen. Dabei sahen sie die Kontinentalmacht Russland gegenüber der Seemacht Großbritannien klar im Vorteil, gerade auch im Hinblick auf das große Potential dieser Region nach einer Durchdringung des eurasischen Kontinents mit einem dichten Netz von Eisenbahnlinien. Es scheint daher zwischen diesen geopolitischen Konzeptionen und dem gesteigerten Interesse an Zentralasien in Publizistik und Diplomatie ein deutlicher Zusammenhang zu bestehen, der weit über die deutschen Grenzen hinausreichte und womöglich eine gesamteuropäische Dimension hatte.

Obwohl Mark keinen spezifisch globalgeschichtlichen Untersuchungsansatz verfolgt, ist in seinem Buch dennoch klar erkennbar, wie eng die europäische Friedensordnung bereits in der Globalisierungsphase des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den Geschehnissen in weit entfernten Regionen verknüpft war, auch wenn dort wie im deutschen Fall keine unmittelbaren nationalen Interessen verfolgt wurden. Gerade deshalb ist Marks Buch, um diese Zusammenhänge nachzuvollziehen, auch über die konkrete Zentralasien-Thematik hinaus sehr lesenswert.

Wolfram von Scheliha, Leipzig

Zitierweise: Wolfram von Scheliha über: Rudolf A. Mark: Im Schatten des „Great Game“. Deutsche „Weltpolitik“ und russischer Imperialismus in Zentralasien 1871‒1914. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 504 S., Tab., 1 Kte. ISBN: 978-3-506-77579-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Scheliha_Mark_Im_Schatten_des_Great_Game.html (Datum des Seitenbesuchs)

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