Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 466-467

Verfasst von: Joachim von Puttkamer

 

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: Beck, 2010. 415 S., 10 Tab., 6 Ktn. = Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert. ISBN: 978-3-406-60645-8.

„Warum ist Jugoslawien zerfallen?“ Mit dieser Frage eröffnet Marie-Janine Calic ihre Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. Dieser Frage muss sich jede Gesamtdarstellung des südslawischen Staates stellen, und doch bestimmt sie nicht die Perspektive dieses Bandes. Angelehnt an Ulrich Herberts Konzeption der Hochmoderne geht es ihr vielmehr darum, die spezifisch jugoslawische Variante gesamteuropäischer Modernitätserfahrungen zu entschlüsseln. Dieser Zugang erweist sich als ausgesprochen fruchtbar. Denn er vermeidet es, die Geschichte Jugoslawiens als unausweichliches Scheitern eines von Anfang an verfehlten Staatswesens zu erzählen und verknüpft drei zentrale Thesen, die das Gerüst der Darstellung bilden.

Die erste These: Der südslawische Staat war kein Kunstprodukt. Vielmehr zeigt Calic in den ersten Kapiteln, wie sich südslawische Idee und serbisches Expansionsstreben seit dem 19. Jahrhundert wiederholt berührten und Hoffnungen auf wirtschaftliche wie nationale Emanzipation nährten, die mit dem Zerfall der Donaumonarchie in einen geradezu enthusiastischen Neuanfang mündeten.

Die zweite These: Weder in der Zwischenkriegszeit noch unter Tito gelang es dem jugoslawischen Staat, seine zentralen Strukturprobleme zu lösen. Auch wenn die eindrucksvolle wirtschaftliche Entwicklung der fünfziger Jahre das Land zu einer Industriegesellschaft werden ließ, konnte der wirtschaftliche Abstand zum Westen Europas nicht dauerhaft aufgeholt werden. Die enormen regionalen Disparitäten in einem Land, in dem sich mitteleuropäisch-habsburgische und balkanisch-osmanische Entwicklungslinien kreuzten, wurden ebenfalls nicht ausgeglichen. Vielmehr scheint es, als ob das Gefälle zwischen dem slowenischen Nordwesten und dem albanischen Südosten selbst in Phasen wirtschaftlichen Wachstums eher noch größer geworden sei. Dieses Gefälle ließ sich leicht in nationale Rivalitäten übersetzen. Auch gelang es Jugoslawien nur zeitweilig, sich gegenüber den Großmächten zu behaupten, wenn deren strategische Interessen auf dem Balkan aufeinanderprallten.

Die dritte These: So erfolgreich das kommunistische Jugoslawien unter Tito endlich den Anschluss an die europäische Hochmoderne gefunden zu haben schien, so unerbittlich legte deren Strukturkrise seit den siebziger Jahren die geringe Anpassungsfähigkeit des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus bloß. Schon einmal, im Zuge der Weltwirtschaftskrise, war das Fortschrittsversprechen des südslawischen Staates ins Wanken geraten. Der zweifelhafte Versuch, den Legitimitätsverlust durch das Eingehen zumindest auf die kroatischen nationalen Bestrebungen aufzufangen, war damals durch den Zweiten Weltkrieg abrupt unterbrochen worden. Gut drei Jahrzehnte später geriet die jugoslawische Idee nunmehr erneut unter den Druck ethnonationaler Bestrebungen, die sich auch durch immer weitere Dezentralisierung nicht mehr einhegen ließen. Mangels demokratischer Legitimation wurde Jugoslawien schließlich nur noch durch die Person Titos zusammengehalten, und es steht zu bezweifeln, ob stärkere Partizipationsmöglichkeiten den Zerfall nicht vielmehr noch beschleunigt hätten. Die Frage nach den Ursachen für den schlussendlichen Zerfall Jugoslawiens trennt Calic folgerichtig von der Frage, weshalb dieser so kriegerisch erfolgte. Hier verweist sie auf die Reaktualisierung der Erfahrungen ethnischen Bürgerkriegs im Zweiten Weltkrieg und auf die asymmetrische Konstellation der bewaffneten Akteure zu Beginn der neunziger Jahre, die schließlich das staatliche Gewaltmonopol zusammenbrechen ließ.

Calic erzählt die Geschichte Jugoslawiens aus den Modernisierungshoffnungen und Modernisierungskrisen, die seine Einwohner mit dem gemeinsamen Staat der Südslawen verbanden. Nationalen Opfernarrativen tritt sie damit ebenso entschieden entgegen wie dem Klischee einer vermeintlichen balkanischen Gewaltkultur. Indem sie die Geschichte Jugoslawiens und dessen gewaltsames Ende in die europäische industrielle Hochmoderne einbettet, macht sie den südslawischen Staat vielmehr als Produkt ebendieser Hochmoderne verständlich. Diese Deutung hat viel für sich. Calic neigt allerdings dazu, das frühe Tito-Jugoslawien der fünfziger und sechziger Jahre zu idealisieren. So ist der Verfasserin auch prompt vorgeworfen worden, sie reproduziere geradezu linientreu eine kommunistische Meistererzählung. Diese Kritik ist jedoch insofern unberechtigt, als Calic ausführlich und differenziert auch die Gewaltverbrechen des kommunistischen Regimes in seinen frühen Jahren schildert.

Wenn überhaupt, dann kann man dem Band vorhalten, dass die Habsburgermonarchie in den einleitenden Kapiteln reichlich schlecht wegkommt und ihr inneres Gefüge teilweise grob verzeichnet wird. Der Hinweis, die Monarchie habe nie ernsthaft erwogen, „politische Partizipation sowie wirtschaftliche und sprachlich-kulturelle Selbstbestimmung zu gewähren“ (S. 43), wirkt befremdlich für einen Staat, der 1867 zumindest für seine cisleithanischen Länder die Gleichberechtigung der Volksstämme zum Staatsgrundgesetz erhoben hatte und 1907 das allgemeine Männerwahlrecht in der vergeblichen Hoffnung einführte, auf diese Weise die ausufernden nationalen Ansprüche einzuhegen. Für Ungarn mag solche Kritik schon eher gelten. Allerdings schrieb das ungarische Nationalitätengesetz das Ungarische nicht als Unterrichtssprache vor, und zudem galt es nicht in Kroatien. Hier irrt die Autorin also gleich doppelt (S. 43).

Nun lässt sich der Aufwertung der Habsburgermonarchie in der jüngeren Forschung entgegenhalten, dass diese um 1900 kaum noch nationale oder wirtschaftliche Emanzipationshoffnungen zu speisen vermochte. In der Integration unterschiedlicher sozialer, ökonomischer und politischer Entwicklungspfade hingegen war sie unter den Bedingungen des späten 19. Jahrhunderts deutlich erfolgreicher und auf lange Sicht wohl auch ziviler als ihr südosteuropäischer Nachfolgestaat. Dies aber wäre eine andere Geschichte, und dass Calic sie nicht erzählt, tut ihrer Darstellung Jugoslawiens keinen Abbruch. Beinahe dreißig Jahre nach Holm Sundhaussens Geschichte Jugoslawiens ist diese erste umfassende Darstellung in deutscher Sprache überfällig, und sie wird ihrerseits für die kommenden Jahrzehnte ein zentrales Referenzwerk der deutschen historischen Südosteuropaforschung sein.

Joachim von Puttkamer, Jena

Zitierweise: Joachim von Puttkamer über: Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: Beck, 2010. 415 S., 10 Tab., 6 Ktn. = Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert. ISBN: 978-3-406-60645-8, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/von_Puttkamer_Calic_Geschichte_Jugoslawiens.html (Datum des Seitenbesuchs)

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