Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 267-268

Verfasst von: Gert von Pistohlkors

 

Mathias Mesenhöller Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830. Berlin: Akademie Verlag, 2009. 613 S., Tab., Ktn. = Elitenwandel in der Moderne, 9. ISBN: 978-3-05-004478-1.

Diese Dissertation aus dem Jahr 2007 ist im Umfeld des Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrums „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO)“ unter der wissenschaftlichen Leitung von Michael G. Müller, Osteuropahistoriker an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, entstanden und dem Leipziger Projekt „Elitenwandel“ verpflichtet. Die stupende Quellen- und Literaturkenntnis des Autors zeigt sich nicht nur in einem äußerst differenzierten „Anmerkungsapparat“. Vielmehr sucht der Verfasser in einem elfteiligen Anhang (S. 483–553), sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Daten zu eruieren, mit deren Hilfe erstmals zuverlässig über ritterschaftliche Herrschaft in Kurland im genannten Zeitraum informiert wird – und zwar u. a. über Generationen, „Besitzkombinationen“, Begebungen Leibeigener 1700–1819, Güterbesitzstruktur, Gütertransaktionen, Besitzstruktur der Kronsgüter u.a.m. Im Zentrum steht jedoch eine wohlüberlegt untergliederte Darstellung der Geschichte des „Ritterschaftsadels“ und der ständischen Modernisierung im europäischen Kontext in einer „relativ überschaubaren Landschaft“ (S. 26) , indem die „Sonde“ (S. 26) der Eliteforschung angelegt wird. Der Begriff „Ritterschaftsadel“ ist ungewöhnlich: Indigenatsadel (S. 202) oder einfach Kurländische Ritterschaft wäre geläufiger. Die Einleitung beginnt geschickt mit einem Rückblick des Ritterschaftssekretärs Ernst von Rechenberg-Linten (1788–1858). In seinem Werk über „Die Zustände Kurlands im vorigen und diesem Jahrhundert“ von 1858 sah Rechenberg beispielsweise im Vergleich mit den Unmenschlichkeiten im zeitgleichen englischen Industriekapitalismus „die ständische Option der Ostseeprovinzen, die meritokratische und aristokratische Elemente im Rahmen einer imperialen Monarchie verbinde, als das zivilisatorisch überlegene Modell“ an (S. 12). Diese positive Feststellung nimmt der Verfasser zum Anlass für eine durchgängige, gründliche Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, in dem skeptische Urteile über den „zähen Anachronismus“ Kurland der entgegengesetzten Erfahrung von Zeitgenossen gegenübergestellt werden, die einen stetigen sozialökonomischen Wandel zum Besseren erlebt haben wollten. Am Ende betont der Verfasser zu Recht, dass die ritterschaftliche Elite Kurlands in ihrem Streben nach Eigenständigkeit und Einfluss im genannten Zeitraum durchaus nicht auf der Verliererseite stand. Diese Diskrepanz zwischen der vermuteten Rückständigkeit und der tatsächlich erlebten Teilhabe an etwas „substantiell Neuem“ (S. 474) hat den Verfasser besonders interessiert. Er begründet im Übrigen überzeugend die Einteilung des Gesamtwerks in drei stark unterteilte Großabschnitte: „Das Herzogtum“ (S. 35–220), „Die Agonie des Ancien Régime“ (S. 221–334), „Imperialisierung“ (S. 335–472) sowie „Überblick“ (S. 473–482). Ein leider in sich nicht untergliedertes „Quellen- und Literaturverzeichnis“ (S. 559–602) sowie ein Personenregister und Karten von 1783 und 1819 runden den sorgfältig edierten Band ab. In dem besonders wichtigen ersten Großabschnitt „Herzogtum“ wird zu Recht hervorgehoben, dass Kurland als „Adelsrepublik mit fürstlicher Spitze“ (S. 474) im Vergleich mit den beiden nördlicher gelegenen Ostseeprovinzen Livland und Estland in vielfacher Hinsicht eine Sonderstellung einnahm. Das heißt aber nicht, dass die Ergebnisse der wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Untersuchungen nicht auch neue Wege für die Erforschung des ganzen baltischen Raumes aufzeigen könnten. Das Unterkapitel „Praxis der Bereicherung“ (S. 99–122) gibt drastische Hinweise auf einen „Geist der Gier“ (S. 101). Land und Leute seien von Gutsherren als Ressourcen behandelt worden. Für Kurland wie für Livland und Estland gelte, dass eine „extensive Wirtschaftsform intensiv abgeschöpft“ wurde (S. 117). Zum Thema Bereicherung und Prestigedenken gehört auch der langjährige Kampf der Ritterschaft um den Zugriff auf die Domänen. Die Vielzahl der gewählten Aspekte und Beispiele ist beeindruckend. Besonders viel Aufmerksamkeit widmet der Verfasser auch dem „Diskurs der Aufklärung“ (S. 153–220). Sie wird als kommunikativer Gestus beschrieben, dem sich niemand entziehen konnte, der Einfluss ausüben wollte. Der Verfasser setzt sich mit den neu verstandenen Begriffen „Öffentlichkeit“ und „Patriotismus“ auseinander (S. 164–180). Besonders vielseitig sind die Analysen der „Gutsgesetze“, der „leges peculiares“ (S. 181–192). Unter der Überschrift „Der Griff des Adels nach der Landesherrschaft“ werden Gravamina, Memoires und das Projektum von 1793 durchmustert. Zum Thema „Zunftgeist oder Revolution?“ (H. Bosse) hat der Verfasser eigene Vorstellungen, die in eine einleuchtende Verteidigung des bisher heftig als „Verräter“ angegriffenen Realisten Otto Hermann v. d. Howen münden (S. 251–258), der den Übergang zu Russland im eigenen (kurländischen) Interesse als unausweichlich ansah. In den 1790er Jahren habe die Ritterschaft im Kampf gegen jede Partizipationserweiterung eine Intensivierung der Partizipation nach innen angestrebt und erreicht. Die Rolle des Landtags wurde entscheidend gestärkt. Der Verfasser sieht in diesem Zugriff einen gewissen Höhepunkt der ständischen Modernisierung und wohl auch seiner eigenen Darstellung. Danach beginnt in der Konsequenz der Dritten Polnischen Teilung von 1795 eine „Diskursumwälzung“ (S. 477). Im Russischen Reich angelangt, musste sich die Ritterschaft im Zuge einer „halb unwilligen Einwilligung“ in eine „Revolutionierung der Herrschaftsordnung von außen“ (S. 477), von St. Petersburg aus, fügen.

Die Durchsetzung des Kurländischen Adeligen Kreditvereins von 1828 gegen und mit dem Generalgouverneur Marquis Paulucci wird überzeugend eingeordnet (S. 387–404): die Kurländische Ritterschaft war im Unterschied zum Aufbegehren des Adels in Polen und Litauen um 1830/31 im Russischen Reich angekommen: „Loyalität und Erfüllung der russischen Staatsinteressen gegen konditionierte Mitsprache“ (S. 407). Sinnstiftend für eine „Neuerfindung des Adels“ (S. 407) wirkt auch die einsetzende Beschäftigung mit der eigenen (Familien-)Geschichte um 1800 (S. 435–447). Johann Ernst v. Schoeppingks „Versuch eines kurtzen Grundrisses zu der Kurländ- und Semgallischen Geschichte“ von 1762 und Schriften späterer Autoren wie Garlieb Merkel und Georg Friedrich v. Fircks (S. 436–447) werden glänzend interpretiert. Diese Dissertation ist kein Gesellenstück, sondern eine Meisterleistung.

Gert von Pistohlkors, Göttingen

Zitierweise: Gert von Pistohlkors über: Mathias Mesenhöller Ständische Modernisierung. Der kurländische Ritterschaftsadel 1760–1830. Berlin: Akademie Verlag, 2009. = Elitenwandel in der Moderne, 9. ISBN: 978-3-05-004478-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Pistohlkors_Mesenhoeller_Staendische_Modernisierung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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