Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Karl von Delhaes

 

Hanna Kozińska-Witt Krakau in Warschaus langem Schatten. Konkurrenzkämpfe in der polnischen Städtelandschaft 1900–1939. München: Steiner, 2008. 231 S., Abb. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 30. ISBN: 978-3-515-08666-0.

Die Anzahl der Publikationen zu Regionalismen in Polen ist bis vor wenigen Jahren gering gewesen, was insofern verwundert, als dem Besucher des Landes solche – wie auch in den übrigen Ländern Europas – überall begegnen. Dass sich dies dem Trauma der Teilungszeit verdankt, legt auch die vorliegende Monographie nahe (u.a. S. 43). Krakau ist allerdings insofern ein besonderer Fall, als die Stadt, wie Kleinpolen generell, außer der jüdischen keine nennenswerte ethnische Minderheit beheimatete (S. 17).

Wie die Autorin – trotz deutlich durchscheinender Sympathien – in wohltuender Distanziertheit darlegt, sind die Wurzeln des Bewusstseins regionaler Identität für Krakau in den Wechselwirkungen zwischen „kultureller Pluralität, nationaler Identität und Modernisierung“ (so der Gegenstand des Forschungsprojektes, in dessen Rahmen die Untersuchung entstand) zu suchen. Es besticht dabei das Bemühen, Geistes-, Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte in einer Ausgewogenheit heranzuziehen, wie sie gegenwärtig leider nicht selbstverständlich ist. Dafür steht schon die Gliederung in fünf Kapitel, wovon die ersten beiden im Schwerpunkt die Einbettung und Ausgestaltung der Krakauer Selbstverwaltung im jeweiligen Staatssystem betreffen. Das dritte Kapitel befasst sich mit Stadtentwicklungskonzepten, die jeweils an die sich wandelnden wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst wurden Das vierte Kapitel ist ganz dem historischen Mythos der „geistigen Hauptstadt“ und der zu dessen Stützung gepflegten, zum Teil ‚erfundenen‛ Traditionen gewidmet. Das letzte Kapitel behandelt konsequenterweise die Presse, der in der betrachteten Zeit mit zunehmender Alphabetisierung der Hauptanteil am Transport solcher Anschauungen in die öffentliche Meinung zufiel.

Impulse der Entwicklung gingen dabei im Positiven wie im Negativen immer wieder von der – zumindest in Krakau so empfundenen – Konkurrenzsituation zu Warschau aus. Das Spektrum des Wettbewerbs spannte sich vom Bereich der Geistesgeschichte über Fragen der Beamtenrekrutierung bis zur Schaffung einer modernen ökonomischen Grundlage großstädtischer Existenz. Unter dem erstgenannten Aspekt ist das Beispiel der Krakauer und der Warschauer Schulen polnischer Historiographie besonders illustrativ, deren Ausdifferenzierung im Ursprung u.a. auf unterschiedliche Zensurbestimmungen in den Teilungsgebieten zurückgeführt wird (S. 11), die aber in der Folge ihren Beitrag zur Stützung der Bedeutung ihrer jeweiligen ‚Heimatstadt‛ leisteten (u.a. S. 45, 121). Der „Beamtendebatte“ ist ein eigener Abschnitt im Pressekapitel gewidmet (S. 180ff.). Die Tatsache, dass es zur Teilungszeit eine ausgebildete polnische Bü­rokratie nur in Galizien gab, deren Beam­ten dann zwangsläufig zu Beginn der zweiten Republik in allen Landesteilen eingesetzt wurden, ist in Polen heute noch (!) in – keineswegs immer positiver – Erinnerung. Die Industrialisierung schließlich blieb Krakau im betrachteten Zeitraum, nicht zuletzt durch in Warschau getroffene Entscheidungen, versagt. Erst die Volksrepublik beendete durch die Gründung von Nowa Huta diesen Zustand – auch um die lokale Gesellschaftsstruktur und damit das Krakauer Selbstbewusstsein zu verändern.

Da es Kozińska-Witt gelingt, den „vieldimensionalen geschichtlichen Wandel“ (S. 194) in überzeugender Form sichtbar zu machen, würde man sich wünschen, dass diese Studie eine Fortsetzung bis in die Gegenwart erfährt.

Karl von Delhaes, Marburg/Lahn

Zitierweise: Karl von Delhaes über: Hanna Kozińska-Witt Krakau in Warschaus langem Schatten. Konkurrenzkämpfe in der polnischen Städtelandschaft 1900–1939. Franz Steiner Verlag München 2008. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 30. ISBN: 978-3-515-08666-0., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Delhaes_Kozinska_Witt_Krakau.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Karl von Delhaes. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de