Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 164-165

Verfasst von: Karl von Delhaes

 

Jerzy Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944–1989. Aus dem Polnischen übersetzt von Pierre-Frédéric Weber. Göttingen: Wallstein, 2013. 475 S., Abb., Tab. = Moderne europäische Geschichte, 7. ISBN: 978-3-8353-1307-1.

Wenn auch wirtschaftliche Aktivitäten – selbst solche am Schwarzmarkt – fast ausnahmslos geplant sind, so wird doch am Titel des Buches sogleich klar, dass die sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft gemeint ist, ohne die der Schwarzmarkt weder die Vielfalt seiner Aspekte noch sein enormes volkswirtschaftliches Gewicht hätte entwickeln können.

Schon im ersten Kapitel, das Definitionen und methodischem Vorgehen gewidmet ist, verdeutlicht der – bereits durch eine Fülle einschlägiger Beiträge bekannte – Autor seine Skepsis gegenüber dem Anspruch staatlicher Planung, die Bedürfnisse der Bürger mit dem Angebot in Einklang zu bringen: Dieser Illusion sei ganz überwiegend die universale Präsenz von Schatten- und Parallelwirtschaft, des breiten Spektrums zwischen legalen und kriminellen Transaktionen geschuldet. Kochanowski erhebt dabei nicht den Anspruch auf ökonomische, sozialwissenschaftliche oder anthropologische Analyse, sondern möchte eine „interdisziplinär angelegte, jedoch betont geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion“ (S. 9) der Schwarzmarktentwicklung in der Volksrepublik liefern. Die Auswahl der dazu ausgewerteten Quellen ist groß: Die Mehrzahl der über 1300 Fußnoten enthält Verweise auf Materialien aus fünf zentralen und sechs regionalen polnischen Archiven. Wegen der Einseitigkeit staatlicher Dokumentation des Geschehens bezieht der Autor Meldungen und Kommentare aus über 80 Zeitungen des In- und Auslandes ein und nutzt das Pressearchiv des Herder-Instituts Marburg, u.a. auch für die Berichte von RFE. Da wissenschaftliche Publikationen zum Problemkreis in Polnisch aus dem in Frage stehenden Zeitraum rar sind, ist die Mehrheit der zitierten Beiträge im Ausland erschienen.

Das nächste Kapitel gibt einen Überblick über Schwarzmarktphänomene bis unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, vor allem in Polen und anderen europäischen Ländern. Neben dem Ausweis der bekannten Ursachen Besteuerung, Regulierung, Staatsmonopolen und Verboten ist hier von besonderem Interesse die Akzeptanz illegaler Transaktionen unter Fremdherrschaft und Besatzung, die – nicht nur in Polen – verschiedentlich in deren Heroisierung als Akte des Widerstands gipfelte.

Nach dieser Hinführung zum Gegenstand folgt dessen Behandlung unter zeitlichem, räumlichem und sachlichem Aspekt: Zunächst werden die wiederholte Verschärfung der Versorgungsprobleme in vier Jahrzehnten Volksrepublik, die Reaktionen der Bevölkerung wie der Schwarzmarktakteure und die wechselnden Gegenmaßnahmen des Staates geschildert, wobei letztere zur Periodisierung dienen. Von besonderem Interesse ist bei diesen Maßnahmen das Bemühen, durch entsprechende Propaganda den Ursachenzusammenhang umzukehren und die Spekulation für die Engpässe verantwortlich zu machen. Neue institutionelle Vorkehrungen, die sich – zumindest anfangs – um Einbindung „gesellschaftlicher Kräfte“ in den Kampf gegen die Spekulation bemühten, wurden zu Beginn häufig von Schauprozessen für die ersten gefassten Delinquenten flankiert.

Räumlich unterschied sich Qualität und Inzidenz halblegaler und illegaler Wirtschaftsaktivitäten erwartungsgemäß nach Zentrum und Peripherie, waren doch hier die verstaatlichte Industrie, Handels- und Finanzorganisationen wie auch die Behörden konzentriert, während dort die private Landwirtschaft überwog und engere Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen das gesellschaftliche Umfeld prägten.

Die Küstenregion im Norden bot spezifische Chancen durch das seefahrende Personal und Kontakte im internationalen Handel, wogegen der Süden seine Möglichkeiten im Tourismus und der unübersichtlichen Gebirgsgrenze fand.

Im Osten und Westen dagegen war vor allem die mehrfach wechselnde Durchlässigkeit der Grenzen zu den sozialistischen Nachbarn von Bedeutung. Traditionen der Teilungsgebiete spielten ebenfalls eine Rolle.

An Segmenten des Schwarzmarktes werden in speziellen Kapiteln Fleisch, Alkohol, Benzin und schließlich Gold und Devisen behandelt. Baumaterialien bleiben trotz ihrer Bedeutung außer Betracht, da sie „spezielle Forschungsinstrumente erfordert“ (S. 32, Anm. 54) hätten.

Fleisch verdient sicherlich eine herausragende Behandlung, da es wegen seiner Wertschätzung in der Bevölkerung auch in der Propaganda eine bedeutende Rolle spielte. Kochanowski weist auf eine auffällige Korrelation zwischen Engpässen in der Fleischversorgung und Krisen des Regimes hin. Der ehemalige Sozialminister A. Rajkiewicz klagte dem Rezensenten seinerzeit, dass es diese Probleme nicht gäbe, wenn man die Polen nur an eine gesündere Diät gewöhnen könne.

Schwarz gebrannter und illegal verteilter Alkohol hatte eine kaum geringere Bedeutung, war aber wegen der Tradition des Alkoholmonopols weniger charakteristisch für die Volksrepublik.

Benzin gewann zwar erst mit zunehmender Motorisierung an Gewicht, konnte aber im Gegensatz zu den vorgenannten Produkten weder privat importiert noch selbst erzeugt werden und war deshalb einzig von staatlichen Zuteilungen abzuzweigen.

Wesentlich vielschichtiger gestaltete sich der Umgang mit Gold und Devisen. Sie erfüllten – im Gegensatz zur Landeswährung – die Funktionen des Wertaufbewahrungs- und universell akzeptierten Zahlungsmittels, sodass man in der Volksrepublik über weite Strecken von einer Doppelwährung sprechen konnte. Die staatlichen Maßnahmen variierten in diesem Bereich vom Verbot des Besitzes bis zur Abschöpfung durch hoch verzinste Devisenkonten und Läden des inneren Exports (Pewex).

Das Kapitel über Handelstourismus schließlich beleuchtet ein Tätigkeitsfeld, das – abgesehen von der Einschleusung von Westwaren – die Unfähigkeit des RGW zur Organisation der „sozialistischen Arbeitsteilung“ belegte, indem es sie durch teils recht komplexe Transaktionen erst – ansatzweise – ermöglichte.

Insgesamt besticht das Buch durch seine Fülle relevanter Details, ohne dabei ins Anekdotische abzugleiten. Zu bemängeln sind allenfalls gewisse sprachliche Unsicherheiten in der Übersetzung: So wird häufig von der „Macht“ oder den „Mächten“ gesprochen, wo Behörden oder Regierung gemeint sind. „Hochstapler“ steht verschiedentlich für Spekulant, „Gemeingut“ für Gemeinwohl usw.

Zu empfehlen ist es jedenfalls allen, die sich für die Sozialgeschichte der Volksrepublik interessieren, aber besonders auch denen, die zur Zähmung der Märkte auf zunehmende Regulierung bis hin zur staatlichen Übernahme wichtiger Segmente vertrauen. Sie sollten die hier meisterhaft dokumentierten Manifestationen der im Konzept des homo oeconomicus stilisierten Komponenten menschlichen Verhaltens ernst nehmen. Der real existierende Mensch ist eben viel häufiger als der wahre Mensch der sozialistischen (und manch anderer) Ideologie.

Karl von Delhaes, Marburg/Lahn

Zitierweise: Karl von Delhaes über: Jerzy Kochanowski: Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen 1944–1989. Aus dem Polnischen übersetzt von Pierre-Frédéric Weber. Göttingen: Wallstein, 2013. 475 S., Abb., Tab. = Moderne europäische Geschichte, 7. ISBN: 978-3-8353-1307-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Delhaes_Kochanowski_Jenseits_der_Planwirtschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Karl von Delhaes. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.