Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 147-148

Verfasst von: Wim van Meurs

 

Dietlind Hüchtker: Geschichte als Performance. Politische Bewegungen in Galizien um 1900. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2014. 386 S. = Geschichte und Geschlechter, 65. ISBN: 978-3-593-50070-6.

Jede geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Disziplin hat ihre eigenen Konventionen bezüglich der Größenordnung des erwünschten theoretischen Rahmens und der dazugehörenden Fallstudien. Die Frage der Repräsentativität von Fallstudien, die Politikwissenschaftler permanent umtreibt, findet bei Anthropologen weit weniger Beachtung bzw. wird dort grundsätzlich in Frage gestellt. Historiker finden sich oftmals zwischen diesen beiden Extremen wieder. Die frauengeschichtliche Habilitation von Dietlind Hüchtker (Universität Halle-Wittenberg 2012) lässt diesbezüglich nicht erahnen, dass die Autorin neben Geschichte auch Politikwissenschaft studiert hat. Die Einleitung über politische Vorstellungen und Handeln steckt mit eher abstrakten Überlegungen einen sehr umfangreichen Rahmen ab.

Diese Einleitung gibt ihre theoretischen Einsichten nicht leicht preis. Die Annäherung an „Regeln des Wandels, die zahlreichen Übergänge von einem Ort und einer Zeit in einen anderen und eine andere“ (S. 8) über die Nacherzählung der Handlung eines Romans auf den ersten Seiten lässt den nichteingeweihten Leser leicht verzweifeln. Auch manche wortgewaltige Formulierung ist dem guten Verständnis eher abträglich: „Eine Performance, gebunden an die Kommunikations- und Wissensformen der Beteiligten, kann und will diese verfremden, verschieben, pointieren, muss sie aber aufgreifen, um verstanden zu werden.“ (S. 21) Ein prägnanter Satz enthält dagegen das Wesentliche zum Forschungsgegenstand der Studie und zum methodischen Ansatz von Dietlind Hüchtker: „Wie die historischen Akteur/innen Geschichte erzählen und Wandel praktizieren und wie gleichzeitig Erzählungen und Wandel eingehen in ein weiteres Narrativ, das der Autorin [].“ (S. 10) Da Repräsentativität nicht das Ziel ist, wird die Auswahl der drei Frauen folgerichtig (aber etwas unbefriedigend) kaum näher begründet als mit der Relevanz der Zeitenwende um 1900 in Galizien und ihrer mehr oder weniger parallelen Lebens. Auch die Auswahl der zu beschreibenden Wirkungsstätten wird nicht explizit erläutert oder auf Bildverzerrungen überprüft. (S. 199)

Unvermittelt wird der Leser anschließend mit den Fallstudien konfrontiert. Nach der theoretischen Großperspektive wird der Fokus neu justiert – nicht auf Nationalbewegungen und die Rolle der Frauen, nicht spezifischer auf die Jahrhundertwende oder auf Galizien, sondern noch genauer auf drei ausgewählte politisch-gesellschaftlich tätige Frauen in Galizien um 1900: eine Bauernaktivistin, eine Feministin und eine Zionistin. Diese Zuspitzung ohne Repräsentativitätsfrage erinnert eher an anthropologische als an politikwissenschaftliche Konventionen. Gleiches gilt für die fast künstlerisch-metaphorische Ordnung des Buches in vier Kapiteln zu „Mitwirkenden“, „Stücken“, „Bühnen“ und „Auftritten“ der „Performance“ dieser Frauen, die in nichts an eine hierarchisch-systematische politikwissenschaftliche Arbeit erinnert. Der Schreibstil ist wohlüberlegt und elegant. Die Angst um ein kohärentes Narrativ mit den unweigerlichen Deutungsansprüchen führt leider ins Leere. „Aus einem Konglomerat von Deutungen und Selbstdeutungen lassen sich verschiedene Narrative über das Selbst- und Weltverständnis der drei Frauen herauskristallisieren, Narrative, in denen differierende Aspekte des Lebens vereint werden, antagonistisch gegenüber- oder auch unverbunden nebeneinanderstehen.“ (S. 46) Das Problem einer vom Autor geschaffenen Deutung lässt sich nicht umgehen, indem statt einer Gesamterzählung Kurzfragmente angeboten werden und es dem Leser überlassen wird, sich daraus ein Gesamtbild zu formen. Gelegentlich sieht die Autorin sich gezwungen, die Selbsteinschätzung der historischen Figuren zu korrigieren: „Alle drei Frauen waren verheiratet oder verwitwet und verfolgten mit Unterstützung ihrer Ehemänner, so die Selbstdarstellungen, berufliche und politische Ambitionen [].“ (S. 305)

Diese Selbstbeschränkung führt dazu, dass aus den sehr perzeptiven und subtilen Analysen der Texte und Handlungen kein Gesamtbild entsteht. Die vertiefte Analyse umfasst die Durchleuchtung vorhandener Texte (Briefe, Zeitschriftbeiträge u.ä.) in ihrem Kontext und mit den darin verborgenen Konzepten und Normen. Außerdem werden die Aktivitäten der Protagonistinnen vor dem Hintergrund der galizischen Politik und Gesellschaft jener Zeit gedeutet. Diese Analysen lösen das überaus wichtige Versprechen ein, diese Frauen nicht nur vor der Folie der großen Nationalgeschichte ihrer Zeit zu betrachten und sie damit dieser unterzuordnen. Mit den besprochenen Fragen und Quellen wechselt auch der relevante Kontext – Europa, Galizien, die Frauenbewegung, die Intelligenzija, der örtliche Verein. Dieses Kunststück ist der Autorin hoch anzurechnen. Es nimmt den Frauenleben die teleologische Eindeutigkeit und Zielstrebigkeit. Die Quellen und die oft sehr kleinen Netzwerke und Milieus, in denen die Frauen sich bewegten, bedingen außerdem, dass die Gesellschaft als solche nur – um in der gewählten Metapher zu bleiben – als Kulisse zu sehen ist. Die drei Frauen gehören vielleicht nicht zu den Wohlhabenden, aber sie fühlten sich sehr wohl der politischen Elite, dem Bildungsbürgertum und der gesellschaftlichen Führungsschicht zugehörig.

Die Tatsache, dass über das Leben der drei ausgewählten Frauen trotz aller Recherchen vor allem aus Selbstzeugnissen Informationen überliefert sind, birgt nicht nur methodische Gefahren, auf die die Autorin zu Recht und wiederholt hinweist. Das Gesamtbild ist dadurch aber auch unwirklich steril und konfliktfrei. Was unvermeidlich fehlt, sind Kontrahenten (weitgehend), Emotionen und vor allem Zweifel bei den Protagonistinnen. Eine Frage, die bei aller methodischen Reflektion und historischen Dekonstruktion vielleicht zu kurz kommt, ist die nach der Traditionsgebundenheit dieser Frauenleben: In welchen Ansichten und Handlungen sind sie eben nicht modern? Dass „Begriffscontainer“ wie Klasse, Nation und Kollektive wie Bauern, Frauen oder Arbeiter konsequent, aber ohne anachronistische Wertungen aufgebrochen werden, ist der große Verdienst dieser Studie.

Wim van Meurs, Nijmegen/Kleve

Zitierweise: Wim van Meurs über: Dietlind Hüchtker: Geschichte als Performance. Politische Bewegungen in Galizien um 1900. Frankfurt a.M., New York: Campus, 2014. 386 S. = Geschichte und Geschlechter, 65. ISBN: 978-3-593-50070-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/van_Meurs_Huechtker_Geschichte_als_Performance.html (Datum des Seitenbesuchs)

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