Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 138-140

Verfasst von: Wim van Meurs

 

Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Bielefeld: Transcript, 2013. 494 S. = 1800/2000. Kulturgeschichten der Moderne, 11. ISBN: 978-3-837-62136-5.

In einer Zeit, in der jeder Unmengen Text produziert, der zumindest zeitweilig festgehalten wird, ist die Situation von vor gut hundert Jahren kaum mehr vorstellbar. Auch wenn es Historiker der nächsten Jahrzehnte zur Verzweiflung bringen wird: Jeder von uns produziert heute jährlich mehr Text als ganze Generationen russischer Bauern im 19. Jahrhundert. Historiker suchen händeringend nach Zeugnissen und der Stimme der einfachen Männer und Frauen aus der späten Zarenzeit.

Julia Herzberg von der Universität Freiburg im Breisgau verfolgt allerdings bei ihrer Studie der bäuerlichen Autobiographik der späten Zarenzeit (d. h. vor allem nach der Bauernbefreiung 1861) bis zur frühen Sowjetzeit (d. h. bis zur Kollektivierung der Landwirtschaft) einen besonderen Ansatz. Die Historiker, die sich in den letzten 20 bis 30 Jahren für diese Quellen und die Alltagsgeschichte des einfachen Russen interessierten, suchten oftmals ein Gegengewicht und Korrektiv für die klassische politische Geschichte aus der Perspektive der Herrschenden. Hierdurch wurde mit den autobiographischen Texten der ersten Bauern, die des Schreibens mächtig waren, ein zu hoher ‚Wahrheitsanspruch‘ verbunden. Diese ehemaligen Leibeigenen würden die Geschichte schreiben, ‚wie es wirklich gewesen war‘. Oder die Repräsentativität der überlieferten Texte anhand einiger weniger formaler Kriterien wurde in den Mittelpunkt der Erforschung gestellt.

Herzberg befasst sich im ersten Teil des Buches äußerst sorgfältig und ausgiebig mit diesen methodischen Fragen und den entsprechenden (deutschen und russischen) historiographischen Traditionen im Umgang mit sogenannten „Ego-Dokumenten“ (nicht weniger als 80 der insgesamt 420 Seiten Haupttext). Auch wenn diese Überlegungen präzise, subtil und gründlich präsentiert werden, gibt es in der Argumentation mehrere Abschnitte, die erst bei erneutem Lesen wirken. Die Herangehensweise als Ganzes leuchtet dagegen sofort ein. Herzberg schlussfolgert, dass die Autobiographik von Bauern aus jener Umbruchzeit, wie sie uns heute zur Verfügung steht, das Produkt eines komplexen Prozesses ist und sicherlich keinen privilegierten Zugang zur Vergangenheit als solcher bietet. Nicht nur (wie die Empirie des Buches eindrucksvoll belegt) passten die Bauern ihr Schreiben inhaltlich und stilistisch an Medium und Zielgruppe an, sondern es gibt auch starke Indizien, dass die Sammler bestimmte Zeitzeugnisse aufbewahrten, andere aussortierten und wieder andere neu schrieben. Der Historiker hält hierdurch somit keinen Zugang zum ‚wahren Leben‘ des gemeinen Volkes in der Hand, sondern bestenfalls das Produkt eines komplexen, zeitlich gestreckten Prozesses mit vielen Aktoren, Motiven und Wendungen. Somit distanziert Herzberg sich sowohl von den älteren Historikern, die dem mužik jede Individualität absprachen, als auch von den Revisionisten, die diese Autobiographik als authentisches Korrektiv für die Meistererzählung des politischen und gesellschaftlichen Establishments benutzten.

Besonders interessant, tiefschürfend und subtil ist dabei Herzbergs vergleichende Analyse der Wissenschaftstraditionen von Historikern und anderen, die sich in den letzten anderthalb Jahrhunderten in Russland und Deutschland mit Bauernautobiographik befasst haben. Während zum Beispiel in der deutschen Perzeption literarische Qualität im Vordergrund stand, war aus russischer Sicht im 19. Jahrhundert deren Fehlen der Beweis, dass der Bauer die Lage ungeschönt und spontan schilderte. In der frühen Sowjetzeit war diese Autobiographik für Autoren und Sammler eine Gratwanderung zwischen der drohenden Beschuldigung des „Subjektivismus“ (d. h. sich selbst über das Kollektiv zu erheben) und politisch erwünschten Zeugnissen des Gegensatzes zwischen Zarenherrschaft und Kommunismus. Wenn leise Kritik an dieser exzellenten, fundierten Studie überhaupt angebracht wäre, hätte man sich eine noch breitere Erörterung des Umgangs von professionellen Historikern in Westeuropa und Russland mit Autobiographik wünschen können. Die vermeintliche Ausnahmestellung Russlands wäre dadurch wahrscheinlich noch weiter geschrumpft: Vielerorts überzeugten erst die in offiziellen Akten ungenügend dokumentierten Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts die Historikerzunft von der Notwendigkeit, sich eingehend mit Ego-Dokumenten als problematischen, aber wertvollen Quellen zu befassen. Die von Herzberg konstatierte Depolitisierung der Autobiographik als Quelle findet sich heutzutage in der westlichen wie in der russischen Historiographie. Ein zweiter kleiner Punkt der Kritik in dieser überlegt komponierten Studie beträfe die Bewertung der Motive und Zwänge der Politik, die für die späte Zarenzeit differenzierter und empathischer daherkommt als für die Herrschaft Lenins, wo schneller Rückschlüsse gezogen werden.

Die wohlüberlegte Komposition ist dagegen ein großer Vorzug dieser Studie im Vergleich zu ähnlich umfangreichen Monographien, bei denen der Autor der Versuchung erlegen ist, all das mühsam gesammelte und ausgewertete Material dem überforderten Leser in extenso präsentieren zu wollen. Herzberg hat sicherlich auch (wie sie gelegentlich anklingen lässt) viel Zeit und Herzblut in die Suche und Auswahl der Autobiographik investiert. Da in ihrem Ansatz die Frage der Repräsentativität müßig ist, hat sie einige wenige Individuen in der Darstellung hervorgehoben. Die Struktur des Buches bilden nicht Epochen oder Individuen, sondern die prägenden Medien der Autobiographik bzw. die Orte der Veröffentlichung und die anvisierten Zielgruppen.

Im zweiten Kapitel stehen dann Presse und Publizistik zentral. In diesen Medien treten drei Gruppen von Bauern auf, gruppiert nach Schreibthema und nicht nach sozioökonomischen Kriterien: ehemalige Leibeigene, die die Reformen unterstützen, indem sie über ihr hartes Schicksal erzählen; Autodidakten, die das Potenzial der Bauern für Russland unter Beweis stellen; Bekehrte, die zum richtigen Glauben (zurück)gefunden haben. Besonders einprägsam ist dabei die Feststellung der Autorin, dass Bekehrte sich in den kirchlichen Blättern nie über Leibeigenschaft auslassen. Das Medium ist prägend für die Inhalte der „Erfahrungen“. Die Autobiographik, die ausgewählt und gründlich analysiert wird (zum Beispiel der Bauernpoet Spiridon Drožžin in knapp fünfzig Seiten), ist nicht repräsentativ, aber aus unterschiedlichen Gründen interessant. Bewundernswert ist dabei, dass die Autorin die Autobiographen einerseits zum Sprechen bringt, aber andererseits selbst im Narrativ immer kommentierend und einordnend anwesend ist. Die Quellen sprechen nicht für sich.

Im dritten Kapitel stehen dagegen die Sammler zentral, die mittels Schreibaufrufen die Bauern dazu zu bewegen versuchten, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Faszinierend ist dabei, dass einige große Moskauer Sammlungen solche deutliche wiederkehrende Argumentationsmuster aufweisen. Folglich hat der Sammler entweder die erhaltenen Texte an seine eigene Vorstellungen angepasst oder abweichende Autobiographik schlichtweg aussortiert. Drei Sammlungen, die vor der Revolution begannen und danach noch erstaunlich lange fortgeführt werden konnten, werden ausführlich analysiert. Die dritte und letzte Kategorie bilden die Tagebücher von Individuen oder von Familien, die diese manchmal über mehrere Generationen fortführten. Diese Berichte über Alltag, Wetter und Wirtschaft zeigen, dass die große Zäsur weder die Bauernbefreiung von 1861 noch das Revolutionsjahr 1917 war, sondern die Kollektivierung unter Stalin. Aller cultural-turn-Vorsicht zum Trotz scheint hier dann doch ein Bezug zur Welt jenseits des Textes auf.

Wim van Meurs, Nijmegen/Kleve

Zitierweise: Wim van Meurs über: Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Bielefeld: Transcript, 2013. 494 S. = 1800/2000. Kulturgeschichten der Moderne, 11. ISBN: 978-3-837-62136-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/van_Meurs_Herzberg_Gegenarchive.html (Datum des Seitenbesuchs)

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