Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 462-464

Verfasst von: Wim van Meurs

 

Katja Bruisch: Als das Dorf noch Zukunft war. Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2014. 394 S., 16 Abb. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 47. ISBN: 978-3-412-22385-4.

Eine relevante und machbare Forschungsfrage zu einem Thema der russischen oder osteuropäischen Geschichte zu formulieren, ist weitaus schwieriger als manchem westlichen Historiker bewusst sein mag. Von einem Forschungsprojekt in diesem Feld wird erwartet, das es sich zur oftmals wechselhaften und von beiden Seiten ideologisch überhöhten Forschungsliteratur verhält. Andererseits ist die splendid isolation der Regionalforschung längst aufgehoben und soll das Projekt auch eine Brücke zum allgemeinhistorischen Forschungsstand zum Thema schlagen. Die Zugänglichkeit und Ordnung des Quellenmaterials ist eine weitere Schwierigkeit, obwohl umgekehrt zahlreiche Quellensammlungen anders als im Westen noch nicht mit einem modernen Ansatz und moderner Fragestellung durchleuchtet wurden und somit Neues versprechen. Katja Bruisch vom Deutschen Historischen Institut in Moskau ist beides gelungen, ohne dass die Einleitung ein theoretischer oder historiographischer Kraftakt geworden wäre.

Sie erforschte den Agrarismus als wissenschaftliche und gesellschaftliche Bewegung in Russland zwischen der späten Zarenzeit und dem Stalinismus und schlussendlich bis zur Putin-Ära. Wie im ersten Kapitel überzeugend herausgearbeitet wird, hatte man in der Literatur bislang vor allem Augen entweder für die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft oder für die Narodniki und Sozialrevolutionäre als (gewalttätige) politische Exponenten des Agrarismus. Außerdem tat die Forschung sich oftmals schwer, eine Verbindung zwischen der von der Realität abstrahierenden Ideen- und Diskursgeschichte der Zarenzeit einerseits und den harten Begebenheiten der agrarpolitischen Maßnahmen der Bolschewiki andererseits herzustellen. Auch dies gelingt in dem Werk „Als das Dorf noch Zukunft war“ ohne großes theoretisches Brimborium. Im Mittelpunkt steht eine Art kollektive Biographie dieser russischen Agraristengeneration, die aber neben deren wissenschaftlichen Ambitionen auch den gesellschaftlichen und politischen Kontext und die daraus entstehenden Zwänge oder Versuchungen integriert. Wenn es eine Frage gibt, die dabei vernachlässigt wurde (oder sich anhand der verbleibenden Quellen nur bruchstückhaft erörtern ließ), ist es die nach dem kollektiven Selbstverständnis und der corporate identity dieser Generation.

Nach der Entstehungsgeschichte in den letzten Jahrzehnten der Romanovs im ersten Kapitel befasst das zweite sich mit dem Ersten Weltkrieg, der Russischen Revolution und dem Bürgerkrieg als Phase der Politisierung der Agrarexpertise. Obwohl die politische Verbindung der Experten mit dem bolschewistischen Regime den dramaturgischen Höhepunkt des Buches und der Geschichte bildet, sind die ersten beiden Kapitel keineswegs Bausteine eines prädeterminierten, moralisch verwerflichen Auftakts zum Sündenfall der ‚Kollaboration‘. Die Darstellung macht die Zweifel und Entscheidungen der porträtierten Spezialisten nachvollziehbar, aber nicht alternativlos. Im (Bürger)krieg hatten sich viele ihrer Idealvorstellungen politisch erledigt, der ideologische Wille zum großen gesellschaftlichen Wurf war aber gegeben und reizte viele dieser Weltverbesserer ungemein. Bruisch idealisiert ihre Protagonisten aber auch nicht: Berufsperspektiven und andere ‚opportunistische‘ Motive gehören ebenso zum Gesamtbild. Konsequent werden Aleksej Dojarenko oder Nikolaj Kondratev und andere in jeder Phase wissenschaftlich, gesellschaftlich und politisch-ideologisch verortet. 1922 war die frühere Expertenautorität der Agraristen vom Staatsapparat eingekapselt und aus der Öffentlichkeit verschwunden.

Die Zäsur in der kollektiven Lebenserzählung der Agraristen war somit nicht die kommunistische Machtübernahme 1917, sondern ihre politische Eliminierung nach den NĖP-Jahren, die in mancher Hinsicht auf ihre ursprünglichen Ideen rekurriert hatten. Die Autorin hütet sich, trotz ihrer Faszination für diese Wissenschaftler im Wandel der Zeit, vor einer Überbewertung ihres Einflusses bei der Ausgestaltung der NĖP-Politik. Das vierte und letzte Großkapitel des Buches beschreibt die Erfahrungen der Protagonisten nach ihrem Abgang von der politischen Bühne: Manche zogen sich ins innere Exil zurück und andere verließen die Sowjetunion. Die, die nicht Stalins Säuberungen um 1930 zum Opfer fielen, wurden in den vierziger Jahren oder nach 1953 erratisch rehabilitiert. Das Kapitel endet mit der jüngeren Rezeption der Agraristen und ihrer intellektuellen Rehabilitierung seit Gorbačevs Perestrojka. Im Sinne einer kollektiven Biographie ist dieses Kapitel ein logisches Schlussstück. Aus der Perspektive der Fragestellung nach dem Wechselverhältnis zwischen Agrarismus und Politik ist es eine Nachschrift, da die Agraristen hier im Wesentlichen nicht mehr handelnd auftreten, sondern ‚gelebt‘ (oder getötet) werden.

Etwas zu kurz kommt in der Studie vielleicht der Vergleich mit agraristischen Bewegung und mit einer ländlichen Moderne anderswo in Europa (oder sogar auf anderen Kontinenten). Folglich wird der russische Sonderweg hervorgehoben, da sich hier angeblich nur die Sozialrevolutionäre durchsetzen konnten und nicht die gemäßigten Vordenker einer modernen Landwirtschaft und Dorfgemeinschaft. Wissenstransfers und vergleichbare Entwicklungen in anderen Regionen werden meist nur kurz angerissen, weniger aber zur Vertiefung der russischen Fallstudie eingesetzt. Im Exil ließen die Agraristen sich in Prag und Berlin nieder und träumten anfänglich im eigenen Kreis von einer zweiten Chance in Russland nach dem Ende der bolschewistischen Herrschaft. Eine Verbindung zur Grünen Internationale jener Jahre in Prag wird im Buch nicht hergestellt. Umgekehrt haben die Moskauer Agraristen regelmäßig mit A.P. Smirnov zu tun, einem wichtigen bolschewistischen Agrarpolitiker, ohne dass erwähnt wird, dass er der Gründer der Krestintern war, der Roten Bauerninternationale. – einer Organisation, die überraschenderweise auch in der gesamten Darstellung fehlt.

Besondere Erwähnung verdient die Leserlichkeit. Diese in Böhlaus „Beiträgen zur Geschichte Osteuropas“ schön herausgegebene und funktional bebilderte Dissertation basiert auf einer Vielzahl russischer Archive (u.a. GARF, RGAE und Historisches Archiv Moskaus) und auf Literatur in vier Sprachen, aber trotzdem werden die Mühen der Ebene dem Leser nicht aufgedrängt: nicht mehr als vier oder fünf kurze Fußnoten pro Seite und kein eitles Bedürfnis, jedes mühsam erworbenes Detailwissen im Buch unterzubringen. Der Schreibstil der Autorin ist dabei präzise, aber nie gewollt akademisch, mit dem richtigen Tempo, wobei Details und Fallbeispiele die Analysen illustrieren, aber niemals überwuchern. In vieler Hinsicht eine reife Leistung für eine Dissertation und zudem ein wichtiger, eigenständiger Beitrag zur Forschungsdebatte.

Wim van Meurs, Nijmegen/Kleve

Zitierweise: Wim van Meurs über: Katja Bruisch: Als das Dorf noch Zukunft war. Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2014. 394 S., 16 Abb. = Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 47. ISBN: 978-3-412-22385-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/van_Meurs_Bruisch_Agrarismus_Zarenreich_Sowjetunion.html (Datum des Seitenbesuchs)

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