Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 271-273

Verfasst von: Ljubov’ Žvanko

 

Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer 19141939. Paderborn: Schöningh, 2010. 1085 S. ISBN: 978-3-506-76373-0.

„Die Geschichte der Kontakte zwischen Deutschen und Ukrainern zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg ist vielschichtig, schreibt Frank Golczewski, Professor an der Universität Hamburg, im Vorwort seines neuen Buches. Der Autor ist ein führender deutscher Osteuropahistoriker, dessen wissenschaftliches Interesse neben anderem auch den deutsch-ukrainischen Beziehungen gilt. Auf über eintausend Seiten werden die Besonderheiten im Handeln verschiedener politischer Kräfte und militärischer Einheiten dargestellt, gibt der Autor anschaulich das ganze Spektrum der Ereignisse wieder und beleuchtet, auch anhand der Schicksale von Ukrainern, die in den Strudel der Ereignisse gerissen wurden, die deutsch-ukrainischen Beziehungen. Ein wichtiger Aspekt der Analyse sind menschliche Kontakte“, die „auf vielen Ebenen ohne sichtbare staatliche Einmischungblieben (S. 9).

Das vorliegende Buch ist eine fundamentale Arbeit, die die Fülle der vorhandenen Literatur und Quellen zusammenfasst. Im Grunde genommen eröffnet es dem europäischen Leser eine ihm unbekannte Ukraine der Zeit zwischen 1914 und 1939 und lässt nicht nur für Ukrainer, sondern auch für Deutsche und das ganze übrige Europa eine komplette historische Epoche lebendig werden. Für die Ukrainer war es eine Zeit, als sie sich auf verschiedenen Seiten der Fronten des Ersten Weltkrieges befanden, als Nationalstaaten und eine Reihe von den Bolševiki beeinflusster sowjetischer Marionettenrepubliken entstanden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Ukraine zum Schauplatz eines Bürgerkrieges, der bewaffneten Konfrontation von Bol’ševiki, weißgardistischen und polnischen Armeen sowie des Expeditionskorps der Entente. Internationale Isolation, der Widerstand verschiedener gesellschaftlicher Kräfte im Inneren und die mangelnde Reife der ukrainischen Nation führten dazu, dass die Ukrainer im Kampf für ihre Unabhängigkeit unterlagen und vier Staaten, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei und Rumänien, sich Teile der Ukraine einverleibten. In der Folge sahen sich die Ukrainer sozialökonomischen und politischen ‚Experimenten‘ dieser Staaten mit den entsprechenden negativen Folgen ausgesetzt.

Ukrainische Historiker haben diesen Abschnitt der Geschichte ihres Landes hinreichend weit ausgeleuchtet. Der Wert des vorliegenden Werkes besteht darin, dass hier ein Blick ‚von außen‘ auf die für die Ukraine schicksalsträchtigen Ereignisse und die Rolle, die die deutsche Seite dabei spielte, geworfen wird. Frank Golczewski stellt sein enzyklopädisches Wissen unter Beweis und präsentiert dem Leser eine beachtliche Fülle an Faktenmaterial. stets unter dem Blickwinkel der politischen Vorgänge, was anderen Autoren Raum für die Untersuchung der soziokulturellen Aspekte in den wechselseitigen Beziehungen beider Nationen lässt.

Die Studie beruht auf einer umfangreichen Quellenbasis. Der Autor arbeitete in 13 Archiven in fünf Ländern: in Deutschland (Bonn, Berlin, Koblenz, Freiburg und München), Kanada (Ottawa), Polen (Warschau, Krakau und Lublin), in den USA (Washington) und in der Ukraine (L’viv). Allerdings sei darauf verwiesen, dass wichtige Dokumente zum Gegenstand der Untersuchung, wie die Aktenbestände der deutschen Besatzungsmission aus dem Jahre 1918, im Zentralen Staatsarchiv für oberste Staats- und Verwaltungsorgane in Kiev aufbewahrt werden. Gleichzeitig aber kann das Buch durch die Nutzung der recht soliden Historiografie zu Recht als Quintessenz der europäischen Forschung zum Thema bezeichnet werden. Darüber hinaus stützt sich Frank Golczewski auf neun eigene Arbeiten, ein Beleg dafür, dass das vorliegende Werk die Bilanz eines ganzen Abschnittes seiner wissenschaftlichen Wirkens darstellt.

Die Monografie besteht aus zwölf Kapiteln, die wiederum in Paragrafen untergliedert sind. Im Vorwort geht der Autor auf die besondere geografische Lage der Ukraine ein, die einen großen Einfluss auf deren Geschichte hatte. Des Weiteren erörtert der Autor die polnische, deutsche und ukrainische Historiografie, die benutzten Quellen und benennt schließlich seine zentralen Fragestellungen. Im ersten Kapitel Diskurse über die Ukraine bis 1914 stellt Frank Gol­czew­ski dem Leser die Ukraine vor, geht in diesem Kontext näher auf die Entwicklung der Nationalbewegung zu Beginn des Ersten Weltkrieges sowie auf die Interessen Deutschlands und Österreich-Ungarns ein und analysiert auch die Literatur jener Zeit über als die schwierig empfundene ukrainische Frage.

In den folgenden Kapiteln stellt der Historiker die Folgen des wachsenden Interesses Deutschlands an der Ukraine während des Ersten Weltkrieges der revolutionären Ereignisse dar. Am 9. Februar 1918 unterzeichneten Delegationen der Ukrainischen Volksrepublik und der Mittelmächte in Brest den ersten Friedensvertrag des Ersten Weltkrieges. Frank Golczewski zufolge wurde der Vertrag von den Zeitgenossen als etwas Neues verstanden (S. 317). Er wurde auch „Brotfrieden“ genannt, bekam doch die hungernde Bevölkerung der Mittelmächte als Gegenleistung für die auf der Truppenpräsenz der Mittelmächte basierende Unabhängigkeit Getreide aus der Ukraine. Der Ukraine bot dieser Vertrag Schutz ihres Staatswesens, allerdings um den Preis eingeschränkter Souveränität. Die Truppen der Bol’ševiki zogen sich aus der Ukraine zurück, gleichzeitig wurden die ukrainischen Gouvernements in zwei Einflusssphären, eine deutsche und eine österreichisch-ungarische, aufgeteilt (S. 244). Am 29. April 1918 trat der von Hetman Pavel Skoropadskyj geführte Ukrainische Staat, der durch seine paradoxe Entstehung in vielerlei Hinsicht der deutschen Besatzungsmacht verpflichtet war, auf die Bühne der Geschichte (S. 298). Gerade in den Bereichen, in die sich die deutsch-österreichische Besatzungsmacht nicht einmischte, hatte der Staat beachtliche Erfolge aufzuweisen: Ukrainische Bildungseinrichtungen wurden eröffnet wurden, es gab kulturelle Entwicklung und man nahm sich der sozialen Probleme der Opfer des Ersten Weltkrieges an.

Einen gesonderten Platz räumt der Autor dem Wirken ukrainischer Emigranten ein, die in europäischen Ländern Zuflucht suchen mussten. Das Kapitel „Konsolidierung der ukrainischen Emigration“ widmet sich den Schwierigkeiten, die die Ukrainer hatten, um sich an das europäische Umfeld und das Lavieren zwischen allen diplomatischen Fronten zu gewöhnen. Von den Personen, die sich nicht der Ideologie der Bol’ševiki unterwarfen und daher die Ukraine verließen, nennt Frank Golczewski u. a. Pavel Skoropadskyj, Simon Petljura, Jevhen Konovalec, Dmytro Doncov und Vjačeslav Lypynskyj. Im Buch erscheinen sie als Ideologen verschiedener politischer Strömungen zwischen promonarchistisch und nationalistisch. Dabei räumt der Autor der Analyse des ukrainischen Nationalismus, dessen Quellen und Erscheinungsformen sowie den wichtigsten Organisationen wie der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN), viel Platz ein (S. 547–678).

Die deutsch-ukrainischen Beziehungen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre analysiert Frank Golczewski unter dem Aspekt der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit und der später unterzeichneten Verträge. Natürlich war die Ukraine im Bestand der Sowjetunion kein selbstständiger Akteur und für Deutschland daher auch nicht mehr von großem Interesse. Interessanterweise widmet der Autor dem Ausbruch des Kampfes der Ukrainer für ihre Unabhängigkeit im Jahre 1939, als im März die Karpatenukraine ausgerufen wurde, ein ganzes Kapitel (S. 809–921). Leider nahm die politische Annäherung zwischen der Sowjetunion und Deutschland den Ukrainern jede Hoffnung, dass Deutschland die Wünsche der Anhänger einer politischen Unabhängigkeit noch unterstützen würde (S. 858).

Für ein Buch mit 1085 (!) Seiten ist die Erschließung über ein Personenregister und ein Abkürzungsverzeichnis für Fachbegriffe sehr wichtig. Das Foto auf dem Bucheinband zeigt Hetman Pavel Skoropadskyj als ukrainisches Staatsoberhaupt zusammen mit Vertretern der deutschen Generalität. Dazu sei angemerkt, dass Skoropadskyj, als er bereits in Deutschland in der Emigration war, seine „Hetman-Bewegung“ gründete, die für die Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates eintrat.

Ohne Übertreibung kann man das Erscheinen des Buchs von Frank Golczewski als Ereignis für die Forschung zur osteuropäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen. Die deutsch-ukrainischen Beziehungen in jener Zeit waren auf der einen Seite geprägt vom Streben nach wirtschaftlichen Vorteilen, und auf der anderen von der Suche nach einem zuverlässigen Partner im Kampf für ein eigenes Staatswesen. Daher kann man die Beziehungen weder gleichberechtigt noch konstruktiv nennen. Als Positivum bleibt, dass Deutschland ukrainischen Emigranten Zuflucht bot.

Dieses tiefschürfende Werk bringt dem europäischen Leser die Geschichte der Ukraine in einer ihrer tragischsten  Perioden näher. Die Folgen dieses Abschnitts der ukrainischen Geschichte finden in den derzeitigen Ereignissen im Osten der Ukraine ihren negativen Widerhall. In die Lösung dieser von außen ins Land getragenen Krise sind abermals europäische Länder, darunter auch Deutschland, mit einbezogen.

Ljubov’ Žvanko, Charkiv

Zitierweise: Ljubov’ Žvanko über: Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer 1914–1939. Paderborn: Schöningh, 2010. 1085 S. ISBN: 978-3-506-76373-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zvanko_Golczewski_Deutsche_und_Ukrainer.html (Datum des Seitenbesuchs)

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