Anti Selart Livland und die Rus' im 13. Jahrhundert. Böhlau Verlag Weimar, Köln, Wien 2007. VIII, 373 S. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 21. ISBN: 978-3-412-16006-7.

Anti Selarts Dissertation wurde bereits bei ihrer Erstveröffentlichung auf Estnisch von der Hanse- und Osteuropaforschung positiv aufgenommen (vgl. die Rezension in der Hansischen Umschau in den Hansischen Geschichtsblättern 121 (2003) S. 282–283). Umso erfreulicher ist nun die Zweitveröffentlichung auf Deutsch. Sie macht zum einen Selarts Thesen und Ergebnisse einem weiteren Leserkreis zugänglich. Zum anderen wurde die Gelegenheit genutzt, die Arbeit in einer Reihe von Details zu überarbeiten: Der Textkörper wurde unter der Redaktion von Norbert Angermann insgesamt gestrafft, um ein Kapitel gekürzt, phasenweise umgearbeitet und weit­gehend auch um die aktuelle Literatur ergänzt. Der Verfasser selbst kennzeichnete die deut­sche Fassung daher auf einer Tagung in Riga im November 2007 als die aus seiner Sicht maß­gebliche Version.

Die Ergebnisse der Studie sind insgesamt als äußerst anregend zu bezeichnen. Selart setzt sich gelassen, aber kritisch mit der älteren Forschung zu den politischen Beziehungen zwischen Livland und der Rus’ im 13. Jahrhundert auseinander. Im Fokus seines Interesses steht dabei der Ein­fluss konfessioneller Unterschiede auf das Mit­einander, welches bekanntlich oft auch ein Ge­geneinander war. Selart gelingt es nachzuwei­sen, dass es keinen scharfen Gegensatz zwischen orthodoxer und lateinischer Welt im Balti­kum gab. Die verschiedenen Akteure führten nicht nur wiederholt gegeneinander Krieg, sondern sie traten während des gesamten 13. Jahrhunderts immer wieder auch als Alliierte auf. Einige kirchliche Texte, so Selart, zielten zwar darauf ab, Feindseligkeit zu provozieren, ihre Wirkung auf die Gesellschaft, die alltägliche Hal­tung und die Politik blieb aber gering (S. 25). Die Polemik einiger Quellen und die Pro­pagierung eines Feindbildes von den „schis­ma­tischen Russen“ waren situativ. So konnten dieselben russischen Fürsten, wenn es die politische Lage erforderte, als schismatisch oder unions­bereit beschrieben werden (S. 306). Die häufi­gere Erwähnung der schismatischen Haltung der Rus’ im frühen 14. Jahrhundert, also am Ende des vom Verfasser als langes 13. Jahrhundert de­finierten Untersuchungszeitraumes von etwa 1180 bis in die zwanziger Jahre des 14. Jahrhun­derts (S. 12), deutet Selart nicht als Verschärfung der Beziehungen zwischen der Rus’ und Liv­land, sondern schlüssig als Zunahme innerer Spannungen in Livland selbst. Diese Spannungen erzwangen von den verschiedenen livländischen Parteien möglichst kompromittierende Ar­gumente, um Bündnisse ihrer innerlivländischen Kontrahenten mit Fürsten in der Rus’ zu verhindern oder zu diskreditieren. Trotzdem bildeten nach Auffassung Selarts Livland, Novgorod und Pskov im gesamten Untersuchungszeitraum einen gemeinsamen politischen Raum, in dem konfessionelle Gegensätze in Konflikten zwar propagandistisch ausgeschlachtet wurden, für die Konflikte selbst aber nicht ursächlich wa­ren. Ein direkter Kreuzzug Livlands gegen die Rus’ im 13. Jahrhundert sei somit auch nicht ge­plant gewesen. Zusammenstöße während Mis­sions- und Kreuzzügen kamen zwar vor, ent­wi­ckelten sich aber aus Kämpfen gegen heidnische Stämme und waren nicht konfessionell legi­timiert.

Auf der Basis dieser Erkenntnis setzt sich der Verfasser deutlich vom Ost-West-Antagonismus ab, welcher bis heute in der wissenschaftlichen wie populären Literatur immer wieder beschworen wird. Ziel von Selarts im besten Sinne positi­vistischer Arbeit ist es denn auch, das vorliegende Quellenmaterial möglichst frei von „persön­lichen, politischen und ideologischen Sympa­thien und Antipathien“ auszuwerten und so ge­rade den unversöhnlichen Ton des älteren Schrifttums zu überwinden (S. 1).

Selarts Arbeit ist als überaus gelungen zu betrachten. Der informative und dichte Text verlangt aber vom Leser höchste Konzentration, damit er nicht die Orientierung zwischen zahlreichen prosopographischen und genealogischen Details verliert. Diesbezüglich hilfreich sind eini­ge Herrschertabellen bzw. genealogische Tabel­len am Ende des Werkes, die allerdings besser als Tafeln zum Herausnehmen gedruckt wor­den wären, um lästiges Hin- und Herblättern zu verringern. Weitere Kritikpunkte finden sich nur ganz vereinzelt: Inhaltlich ist etwa zu bemängeln, dass Selart den Wandel des Handels- und Verkehrssystems auf der Ostsee, der älteren For­schung folgend, auf das Vordringen der vermeint­lich seetüchtigeren und mit größerem Fassungsvermögen ausgestatteten Koggen zurückführt (S. 39). Diesbezüglich ist jedoch festzu­stel­len, dass die archäologische Forschung der ver­gangenen Jahre zeigen konnte, dass skandina­vische Schiffstypen größer und mit besseren Se­geleigenschaften ausgestattet waren als die Koggen (vgl. z.B. Ole Crumlin-Pedersen Schifffahrt im frühen Mittelalter und die Herausbildung früher Städte im westlichen Ostseeraum, in: Klaus Brand, Michael Müller-Wille, Christina Radke (Hrsg.): Haithabu und die frühe Stadtentwicklung im nördlichen Europa. Neumün­s­ter 2002 (=Schriften des Archäologischen Lan­desmuseums, 8), S. 67–81; sowie Uwe Schnall Die Kogge, in: Jörgen Bracker, Volker Henn, Rainer Postel (Hrsg.): Die Hanse. Lebens­wirklichkeit und Mythos. 2. Aufl. Lübeck 1998, S. 762–765). Letztere setzten sich aber trotz­dem durch. Eine mögliche Erklärung für die­ses Paradoxon kann die im Vergleich zu ihren skandinavischen bzw. aus der Rus’ stammenden Konkurrenten kapitalintensivere Wirtschaftsweise der „hansischen“ Händler sein, die je­doch an dem ihnen bekannten, wenngleich technologisch weniger entwickelten Schiffstyp „Kog­gen“ fest­hielten. Wichtiger als die Entschlüs­selung dieses Rätsels ist allerdings der richtige Befund Selarts, aus einer Verringerung des russischen Aktivhandels sei nicht auf eine sich verschlechternde Handelsbilanz der Städte der Rus’ zu schließen.

Auffällig sind zudem Gewichtung und Termi­nologie der Arbeit. So ist die ungleich dichtere und umfangreichere Bearbeitung der ersten Hälfte des langen 13. Jahrhunderts aufgrund der außergewöhnlichen Bedeutung des Chronicon Li­voniae Heinrichs von Lettland zwar nachvollziehbar, doch trotzdem wünschte man, dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert würden mehr als nur ein gutes Fünftel des Gesamtumfanges des Buches gewidmet. Dies gilt um so mehr, als die urkundliche Überlieferung in diesem Zeitabschnitt deutlich anwächst und somit mehr Quellen aus unterschiedlichen Händen vorliegen, die eine multiperspektivische Analyse der politischen Beziehungen ermöglichen, welche die vor­nehmlich chronikalische Überlieferung der Früh­zeit eben gerade nicht zulässt. Auch der Ge­brauch des Begriffes „Staat“ für den Herrschaftsraum Bischof Alberts ist problematisch. Zwar sind eine entsprechende Charakterisierung und begriffliche Umschreibung der Herrschaft Al­berts in der osteuropäischen Historiographie üb­lich, doch wären eine Anpassung an den west­europäischen Schreibgebrauch oder zumindest eine kurze kritische Diskussion der Begriffe „Staat“ und „Herrschaft“ hilfreich bzw. wünschens­wert gewesen. Eine saubere Trennung der Begrifflichkeiten ist vor dem Hintergrund der Gleichzeitigkeit unterschiedlichster Entwicklungs­zustände und Durchdringungsstärken von Herrschaft im Baltikum während des frühen 13. Jahrhunderts (Stichworte Tributherrschaft, auto­chthone Ältestenherrschaft, Personenverbandsherr­schaft oder doch sogar Territorialherrschaft) meines Erachtens besonders wichtig und beileibe keine Wortklauberei.

Trotz dieser Kritikpunkte bleibt als Fazit fest­zuhalten, dass Autor und Redaktion eine aufgrund ihrer teilweise überraschenden, aber plausibel geführten Argumentation ohnehin bemerkenswerte Dissertation durch sehr gute und gewissenhafte Bearbeitung so verbessert haben, dass sie die Voraussetzungen für ein Standardwerk hat.

Raoul Zühlke, Aachen

Zitierweise: Raoul Zühlke über: Anti Selart Livland und die Rus' im 13. Jahrhundert. Böhlau Verlag Weimar, Köln, Wien 2007. VIII, 373 S. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 21. ISBN: 978-3-412-16006-7., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 56 (2008) H. 4, S. 587-589: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zuehlke_Selart_Livland.html (Datum des Seitenbesuchs)