Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 674-676

Verfasst von: Stephanie Zloch

 

Katarzyna Woniak: Verdrängen und Wiederentdecken. Die Erinnerungskulturen in den west- und nordpolnischen Kleinstädten Labes und Flatow seit 1945. Eine vergleichende Studie. Marburg: Herder-Institut, 2016. X, 419 S., 17 Abb. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 36. ISBN: 978-3-87969-403-7.

Die deutsch-polnische Erinnerungslandschaft ist in den letzten Jahren sehr intensiv erkundet worden. Katarzyna Woniak hat in ihrer binationalen Dissertation, die von Andreas Wirsching an der Universität Augsburg und von Krzysztof Makowski an der Universität Poznań betreut wurde, noch ein Desiderat identifiziert: die Erinnerungskultur im kleinstädtischen Milieu. Um diese näher zu erkunden, hat sie zwei Kleinstädte in Pommern ausgewählt, die beide nach 1945 zu Polen kamen, aber eine unterschiedliche Vergangenheit und demographische Struktur aufwiesen.

Flatow (Zlotów) hatte bereits vor 1772 zu Polen gehört und war dann infolge der ersten Teilung Polens preußisch geworden. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die Provinz Posen (Großpolen) Bestandteil des neu entstandenen polnischen Staats wurde, blieb Flatow bei Deutschland und wurde administrativ der Grenzmark Posen-Westpreußen zugeteilt. In der Zwischenkriegszeit erlangte das zum Teil von polnischsprachiger Bevölkerung bewohnte Flatow als Ort des „Nationalitätenkampfs“ einige Aufmerksamkeit; der Bund der Polen in Deutschland hatte hier eine seiner Hochburgen. Im Zuge der Neubesiedlungsprozesse nach 1945 hatte dies deutliche Auswirkungen, wie Woniak feststellt: Flatow galt Ansiedlern aus Zentralpolen als grenznaher, vertrauter Ort, in dem die polnischsprachige Bevölkerung der Vorkriegszeit, nunmehr als „Autochthone“ bezeichnet, überwiegend wohnen geblieben war und somit Kontinuität verkörperte. Dies wird besonders gut erkennbar im Vergleich mit Labes (Łobez), das 1945 erstmals in polnische staatliche Zusammenhänge kam. In der Nähe von Stettin (Szczecin) gelegen, gehörte Labes zum so genannten „Wilden Westen“ Polens, der nur recht zögerlich und mit einem höheren Anteil von „Repatrianten“ aus den einstigen polnischen Ostgebieten und den Deportationsgebieten der Sowjetunion neu besiedelt wurde, während von der deutschsprachigen Bevölkerung der Vorkriegszeit kaum jemand zurückblieb.

Auf der Grundlage einer beeindruckend breiten Recherche in staatlichen, kommunalen und kirchlichen Archiven, privaten Sammlungen sowie von 17 lebensgeschichtlichen Interviews untersucht Woniak im Hauptteil ihrer Arbeit, welchen Einfluss die Ausgangspositionen von Flatow und Labes im Jahre 1945 auf die Ausgestaltung einer jeweils spezifischen Erinnerungskultur in der Volksrepublik Polen und im demokratischen Polen seit 1989 hatten. Dabei nimmt sie als „Akteure des Erinnerns“ nicht nur den polnischen Staat und örtliche gesellschaftliche Gruppierungen, sondern auch die Kirche und die deutschen Heimatvertriebenen in den Blick. Konkrete Untersuchungsgegenstände bilden dann Feiertage, Denkmäler, Straßennamen und Publizistik.

Für die Zeit der Volksrepublik Polen zeigt Woniak, dass bei aller Abhängigkeit von zentral verordneten propagandistischen und geschichtspolitischen Zielsetzungen auf der lokalen Ebene durchaus Divergenzen im gesellschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit bestanden. Flatow stand stärker im Zentrum historiographischer und publizistischer Aufmerksamkeit. Dabei setzte sich der aus der Zwischenkriegszeit tradierte Kampf um die Polonität Flatows auch im neuen staatlichen Zusammenhang fort, symbolisiert in der raschen Umbenennung und Beseitigung deutscher Denkmäler oder in dem Beharren auf Anerkennung der Autochthonen, ihres Schicksals und ihrer Leistungen. In Labes hingegen, wo die neu angesiedelte Bevölkerung mangels lokalen historischen Wissens oft kaum die deutschen materiellen Hinterlassenschaften identifizieren oder deuten konnte, gab es eine größere Bereitschaft zu Pragmatismus, etwa bei der Erhaltung von Denkmälern oder musealen Sammlungen.

Wie nicht anders zu erwarten, brachte die Zeit seit 1989 eine Reihe von Veränderungen. Neue Akteure wie die demokratisierte kommunale Selbstverwaltung oder zivilgesellschaftliche Gruppierungen traten neben bereits bestehende, aber inhaltlich neu ausgerichtete Institutionen wie Museen oder Bibliotheken. Die stärkere Aufmerksamkeit für die deutsche bzw. multiethnische Vergangenheit der eigenen Stadt vor 1945 ging in Labes und Flatow allerdings mit interessanten erinnerungskulturellen Verschiebungen einher. In Labes war, so Woniak, die Erinnerungskultur von vielen neu entdeckten Bausteinen aus der deutschen Vergangenheit geprägt, die bei aller Bereitschaft, diese in das offizielle Bild der Stadt zu integrieren, nicht zwangsläufig ein stringentes Narrativ, sondern eher ein ad hoc zusammengestelltes „Konglomerat unterschiedlicher Erinnerungen“ (S. 342) bildeten. Gleichzeitig entstand mit dem Verband der polnischen Sibirjaken eine Instanz, die die Umsiedlung aus den ehemaligen polnischen Ostprovinzen als geschichtsmächtigen Faktor der jüngeren Zeit in die kleinstädtische Erinnerungskultur von Labes einschrieb. In Flatow hingegen spielte die deutsche Vergangenheit trotz vieler neu belebter Kontakte zu deutschen Heimatvertriebenen und den später in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelten autochthonen Einwohnern weder die alleinige noch die zentrale erinnerungskulturelle Rolle; vielmehr zog die Wiederentdeckung jüdischer Orte wie des verlassenen jüdischen Friedhofs und der 1938 zerstörten Synagoge ein stärkeres Interesse und Engagement der Flatower auf sich. Hierzu konstatiert Woniak, dass die ehemalige Grenzstadt Flatow „nicht mit aller historischer Kraft ihre historische Identität suchen“ müsse, wie dies bei Labes nach 1989 offenkundig der Fall war.

In einem kurzen Kapitel, das zwischen Hauptteil und Zusammenfassung liegt, fasst Woniak dann die Ergebnisse der lebensgeschichtlichen Kapitel zusammen. Da diese Ergebnisse nicht im Gegensatz zu den vorangegangenen Befunden stehen, stellt sich allerdings die Frage, womit ein eigenes Kapitel zu begründen ist und warum keine argumentative Integration mit dem Hauptteil erfolgte. Generell ist zu bemerken, dass Gliederung und sprachlicher Stil der Arbeit nicht immer glücklich gewählt sind. Eine ausgeprägte Tendenz zu Parallelisierungen (Verhältnisse vor 1989 und nach 1989, in Labes und in Flatow) führt, zusammen mit einer teilweise sehr kleinteiligen Darstellung des jeweiligen lokalen Umgangs mit einzelnen Denkmälern oder Straßennamen dazu, dass der Spannungsbogen bei der Lektüre mitunter recht flach bleibt. Wirklich gravierend ist ein Übersetzungsfehler: Das polnische Adjektiv „ludowy“ wird an mehreren Stellen (S. 28, 84 und 167) mit „völkisch“ wiedergegeben, so dass aus Volkssport ein „völkischer Sport“ oder aus einer Volkshochschule eine „völkische Universität“ wird. Eine Erklärung für die Wahl dieses in der deutschen (Ideen-)Geschichte eindeutig besetzten, für die polnische Zeitgeschichte nach 1945 aber völlig unüblichen Begriffs gibt Woniak nicht.

Von diesen Einwänden abgesehen, hat Woniak eine solide Studie mit einer Reihe wichtiger Einsichten vorgelegt, die das Themenfeld kleinstädtischer Erinnerungskulturen im deutsch-polnischen Beziehungsgeflecht zum ersten Mal hinreichend ausgeleuchtet hat.

Stephanie Zloch, Braunschweig

Zitierweise: Stephanie Zloch über: Katarzyna Woniak: Verdrängen und Wiederentdecken. Die Erinnerungskulturen in den west- und nordpolnischen Kleinstädten Labes und Flatow seit 1945. Eine vergleichende Studie. Marburg: Herder-Institut, 2016. X, 419 S., 17 Abb. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 36. ISBN: 978-3-87969-403-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zloch_Woniak_Verdraengen_und_Wiederentdecken.html (Datum des Seitenbesuchs)

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