Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 321-323

Verfasst von: Stephanie Zloch

 

Maren Röger: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2011. X, 377 S. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 23. ISBN: 978-3-87969-371-9.

Die wissenschaftliche und publizistische Produktion zum Thema Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa ist in ihrem Umfang mittlerweile kaum noch überschaubar. Deshalb hat sich in den letzten Jahren ein neues Forschungsinteresse etabliert: Es geht nun immer öfter um Erinnerungen, Diskurse und Debatten, mithin um eine Historisierung des Umgangs mit dem Thema Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. In diesem Kontext steht auch die vorliegende Arbeit von Maren Röger, die 2010 an der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen wurde.

Röger befasst sich vergleichend mit den medialen Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989, wobei sie nicht nur die bevorzugt von Historikern untersuchten überregionalen Qualitätsprintmedien ins Visier nimmt, sondern auch Boulevardzeitungen und audiovisuelle Quellen, namentlich Dokumentar- und Spielfilme oder Fernseh-Talkshows. In dieser Ausweitung der Quellenbasis, die gerade für die jüngste Zeitgeschichte von höchster Bedeutung ist, aber noch zu selten praktiziert wird, ist ein erster Vorzug von Rögers Arbeit zu sehen. Methodisch konsequent arbeitet Röger daher auch mit einem Verständnis von Diskursanalyse, das nicht nur Texte, sondern auch Bilder einschließt.

Der Aufbau der Arbeit ist zunächst chronologisch: Die deutschen und polnischen Debatten werden nach einer kurzen Vorgeschichte bis 1989 dann für die 1990er und 2000er Jahre ausführlich vorgestellt und erörtert. In einem zweiten, systematisch gegliederten Teil der Arbeit richtet sich der Blick dann auf die Akteure der Debatten, die von Vertriebenenverbänden und Zeitzeugen über Historiker, Publizisten und Auslandskorrespondenten bis hin zu Leserbriefschreibern reichen. Daran schließt sich eine Analyse von Narrativen und Bildern zum Thema Flucht, Vertreibung und Umsiedlung an: Nemmersdorf, der Untergang derWilhelm Gustloffoder das Lager Łambinowice erfahren hier ebenso Berücksichtigung wie die Zahlenkämpfe um Opferangaben oder die Vergleiche mit dem Holocaust.

In dem breiten Spektrum der deutschen und polnischen Debatten, das Röger entfaltet, lässt sich ein roter Faden ausmachen: die Wirkmächtigkeit medialer Eigendynamiken, wozu an vorderster Stelle die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Leser und Zuschauer gehört. So bot das Thema Flucht, Vertreibung und Umsiedlung zu Beginn der 2000er Jahre eine Reihe kommerzieller Vermarktungsmöglichkeiten, etwa durch die Produktion von Filmen mit Begleitbüchern und DVDs, von Themenheften und Zeitschriftenserien. Insbesondere das Wochenmagazin Der Spiegel und die ZDF-Redaktion Zeitgeschichte unter der Leitung von Guido Knopp taten sich hier hervor. Die Aufmerksamkeit steigerte dabei in nicht unerheblichem Maße die bekannte, in der wissenschaftlichen Literatur aber längst überzeugend zurückgewiesene These von einemTabudes Themas Flucht, Vertreibung und Umsiedlung in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch dieBetonung der Extremfälle(S. 309), etwa der winterlichen Flucht aus Ostpreußen über das zugefrorene Frische Haff. Eine prominente Rolle nahmen bei der medialen Aufbereitung des Themas Flucht, Vertreibung und Umsiedlung schließlich auch Zeitzeugen ein, die für Authentizität bürgen sollten, deren Selbststilisierungen oder gar derenpotentielle Mitläufer- und Mittäterschaft(S. 163) aber kaum hinterfragt wurden.

Mögen solche Einsichten Medienprofis kaum überraschen, so sind sie doch in der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung bislang nicht systematisch thematisiert worden, wie Röger betont. Offenkundig entfaltet die Analyse von Deutungen und Diskursen einen größeren Reiz als die Analyse von Marktmechanismen. Gerade in der zeitweise stark emotional aufgeladenen Debatte um Flucht, Vertreibung und Umsiedlungwobei es um nichts weniger als die historischeWahrheitoder denrichtigenUmgang mit der Vergangenheit zu gehen scheintsorgt die Perspektive auf mediale Eigendynamiken für erfrischende Nüchternheit. Hier liegt der zweite wesentliche Vorzug von Rögers Arbeit.

Entwickelt wird die geschilderte Perspektive allerdings vornehmlich in Bezug auf die deutschen Medien. Überhaupt fällt der deutsche Teil des Vergleichs bei Weitem ausführlicher und thesenfreudiger aus. Das ist umso bedauerlicher, da die vielfältigen Veränderungen, Ambivalenzen, aber auch Innovationen in der polnischen Medienlandschaft im Gefolge der Systemtransformation nach 1989 noch wenig aufgearbeitet worden sind. Kritisch anzumerken ist schließlich, dass durch die umfangreiche Darstellung der deutschen und polnischen Debatten und die große Zahl der analysierten Bilder und Narrative nicht genügend Raum für vertiefte inhaltliche Betrachtungen bleibt, so dass ein Leser, der mit dem Thema Flucht, Vertreibung und Umsiedlung bereits etwas vertraut ist, hier mitunter nur wenig Neues erfährt.

Vielleicht ist die Arbeit Maren Rögers daher am besten als konziser, nicht zuletzt für die akademische Lehre sehr gut geeigneter Überblick zum Umgang mit einer umstrittenen Vergangenheit zu lesen, der gleichwohl mit der Erschließung neuer Quellengattungen und der Perspektive auf mediale Eigendynamiken weiterführende Anregungen für die Fachwissenschaft bereithält.

Stephanie Zloch, Braunschweig

Zitierweise: Stephanie Zloch über: Maren Röger: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2011. X, 377 S. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 23. ISBN: 978-3-87969-371-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zloch_Roeger_Flucht_Vertreibung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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