Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 309-310

Verfasst von: Agnieszka Zagańczyk-Neufeld

 

Hans-Christian Dahlmann: Antisemitismus in Polen 1968. Interaktionen zwischen Partei und Gesellschaft. Osnabrück: fibre, 2013. 430 S., 7 Abb., 2 Tab. = Ein­zelveröffentlichungen des DHI Warschau, 30. ISBN: 978-3-938400-94-4.

Die Eröffnung des Museums der Geschichte der Polnischen Juden in Warschau 2014 bringt eine neue Qualität in die polnische Debatte über die polnisch-jüdische Geschichte. Der immer breitere Konsens über die Interpretation und die öffentliche Darstellung dieser schwierigen Problematik umfasst jedoch nicht alle Themen. Die Galerie über die Geschichte nach 1944 bleibt besonders strittig, denn es scheint immer noch keine Übereinstimmung darüber zu geben, wie die „Judenkommune“ und das Ausmaß des Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt werden soll. Seit der Erscheinung der kontroversen Bücher von Jan Tomasz Gross (Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka. Sejny: Pogranicze 2000; sowie der polnischen Ausgabe von Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz. New York: Princeton University Press – Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Kraków: Znak, 2008) kreist die Debatte immer mehr um die Frage, ob die Ausbrüche des Antisemitismus in Polen tatsächlich nur auf gezielte Parteipropaganda zurückzuführen waren oder ob sie ein Ausdruck der in manchen Teilen der Gesellschaft herrschenden Stimmung waren.

Diese Frage greift auch Hans-Christian Dahlmann in seiner Dissertation auf. Er widmet sich den Ereignissen des Jahres 1968, die vor allem aufgrund der Studentenproteste bekannt sind. Sein Schwerpunkt liegt demgegenüber auf der antisemitischen Kampagne, infolge derer mehr als 15.000 Polen jüdischer Herkunft aus der Volksrepublik emigrierten und mehrere Hunderte ihre Arbeit verloren. Anders als die Autoren des ersten deutschsprachigen Sammelbandes zum Antisemitismus in Polen 1968 (Beate Kosmala (Hg.): Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und politisches Kalkül. Berlin: Metropol, 2000) spricht Dahlmann jedoch nicht von einer „Vertreibung“, sondern von einer „Zwangsmigration“ (S. 329). Die einführende Literaturübersicht macht deutlich, dass die Kampagne zwar schon mehrmals thematisiert wurde, der Antisemitismus an sich jedoch kaum im Mittelpunkt stand. Die fast ausschließlich polnischsprachige Literatur wurde bisher nicht ins Englische oder Deutsche übersetzt, daher ist das Erscheinen des zu rezensierenden Buches sehr zu begrüßen.

Nach einem einleitenden Überblick über die Lage der – wie der Autor sie definiert – „jüdischen Polen“ nach 1945 und der Schilderung der Genese der sogenannten Märzereignisse von 1968 untersucht Dahlmann die Kampagne auf der politischen und auf der Mikroebene (am Beispiel der Vorgänge im Kernforschungsinstitut und im Institut für Experimentalphysik der Universität Warschau), um sich schließlich den Betroffenen sowie den Reaktionen der „nichtjüdischen Polen“ zu widmen. Der Untertitel der Studie weist auf die zentrale These des Autors hin: Die Bevölkerung sei nicht nur unter dem Eindruck der Parteipropaganda gestanden – es habe sich vielmehr um eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher und veröffentlichter Meinung gehandelt, denn das Feindbild der „żydokomuna“ sei in der Gesellschaft tief verwurzelt gewesen (S. 379). Somit polemisiert Dahlmann mit der in der polnischen Forschung populären Interpretation, die die Märzereignisse vor allem als Folge des 1956 begonnen innerparteilichen Machtkampfes zwischen Reformkommunisten und Dogmatikern sieht. Die Dogmatiker hätten den Antisemitismus als Instrument gegen die Parteireformer benutzt, um die vollständige Kontrolle über die Parteiführung zu gewinnen. Der Autor betont dagegen die entscheidende Bedeutung des vertikalen Konfliktes zwischen der obersten Parteiführung und der Parteibasis (S. 379), und beruft sich dabei auf den polnischen Historiker und März-Experten Piotr Osęka, der die Ereignisse als eine „Revolution der unteren Kader“ bezeichnet hat (S. 159).

Neuland betritt der Autor bei seinen Fallstudien. Die ausgewählten Institute seien Extrembeispiele, denn während im Kernforschungsinstitut die antisemitische Kampagne sehr ausgeprägt gewesen sei, sei sie im Institut für Experimentalphysik bewusst gedämpft worden (S. 205). Dahlmann beruft sich hier sowohl auf die Akten des Sicherheitsdienstes als auch auf die Personalakten und vor allem auf Zeitzeugenbefragungen. Die Schlussfolgerung, dass besser ausgebildete Personen nicht weniger antisemitisch gewesen seien (S. 354), ist zwar nicht überraschend, dennoch sind die beschrieben Beispiele des Antisemitismus im Kreise der Wissenschaftler teilweise sehr erschreckend.

Im Kapitel über die Erlebnisse der Betroffenen stützt sich der Autor sowohl auf archivalische Quellen als auch auf zahlreich vorhandene Memoiren sowie von ihm gesammelte Zeitzeugenberichte. Auch in diesem Teil der Studie wird sichtbar, dass verschiedene Formen der Diskriminierung nicht nur von staatlichen Institutionen, sondern auch von einzelnen Bürgern ausgingen. Die Existenzberechtigung der jüdischen Institutionen wie des Jüdischen Historischen Instituts, des Jüdischen Theaters und der Soziokulturellen Gesellschaft der Juden in Polen sei im Laufe der Kampagne ebenfalls in Frage gestellt worden. Dabei habe die ältere Generation, die sich an den Holocaust erinnern konnte, unter der Diskriminierung viel mehr gelitten als die jüngere, die stark assimiliert gewesen sei und kaum noch einen Bezug zum Judentum gehabt habe, so dass sie sich kaum gewehrt und dem Antisemitismus gegenüber passiv verhalten habe (S. 366).

Die „nichtjüdischen Polen“ hätten sich nur selten offen gegen die antisemitische Kampagne gestellt (S. 339), meistens seien sie einfach passiv gewesen (S. 358). Auch die katholische Kirche habe sich nicht für die Benachteiligten engagiert (S. 369). Zahlreiche Beispiele, die Dahlmann im letzten Kapitel der Studie anführt, zeigen, dass die Zurückhaltung der Bevölkerung nicht nur der Angst vor Repressionen seitens der staatlichen Institutionen entsprungen sei, sondern auch mangelndem Wissen über den Holocaust und fehlender Empathie für die Juden. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei hat bekanntlich weder den Holocaust aufgearbeitet, noch den nationalen Widerstand gegen den Nationalsozialismus (im Gegensatz zum kommunistischen Widerstand) ausreichend gewürdigt, was unter anderem zu einer Verfestigung der antisemitischen Stimmungen in manchen Teilen der Gesellschaft führte. Der Autor räumt ein, dass die Parteiführung die Kampagne zwar ausgelöst, doch schnell die Kontrolle über die Akteure und das Ausmaß verloren habe, da sie die antisemitischen Stimmungen unterschätzt habe. Der Erste Sekretär Władysław Gomułka habe sich bemüht, die Kampagne wieder abzubremsen (S. 126), was ihm erst im Juni 1968 gelungen sei (S. 170–171), und auch im Politbüro hätten die kritischen Meinungen überwogen (S. 153). Für Dahlmann hat diese Erkenntnis noch eine weitere Bedeutung: Das Regime sei darauf angewiesen gewesen, die öffentliche Meinung zu berücksichtigen, was von seinem autoritären, aber keinesfalls totalitären Charakter zeuge (S. 385).

Zweifelsohne gelingt es dem Autor, die im Titel der Studie angekündigte Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft umfangreich zu schildern. Bei der Analyse der einzelnen Abläufe der Kampagne wird allerdings eine Fülle von Beispielen angeführt, die oft zu wenig sozialgeschichtlich kontextualisiert werden – wünschenswert wären vertiefte Analysen bestimmter Verhaltensweisen. Der problemorientierten Gliederung sind auch einige Wiederholungen in einzelnen Kapiteln geschuldet. Dessen ungeachtet ist die Arbeit sowohl für Einsteiger als auch für Kenner der polnisch-jüdischen Geschichte sehr empfehlenswert.

Agnieszka Zagańczyk-Neufeld, Bochum

Zitierweise: Agnieszka Zagańczyk-Neufeld über: Hans-Christian Dahlmann: Antisemitismus in Polen 1968. Interaktionen zwischen Partei und Gesellschaft. Osnabrück: fibre, 2013. 430 S., 7 Abb., 2 Tab. = Ein­zelveröffentlichungen des DHI Warschau, 30. ISBN: 978-3-938400-94-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zaganczyk-Neufeld_Dahlmann_Antisemitismus_in_Polen_1968.html (Datum des Seitenbesuchs)

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