Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 133-134

Verfasst von: Krista Zach

 

Markus Koller: Eine Gesellschaft im Wandel. Die osmanische Herrschaft in Ungarn im 17. Jahrhundert (1606–1683). Stuttgart: Steiner, 2010. 226. S. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 37. ISBN: 978-3-515-09663-8.

Die vielfach beklagte Ignoranz älterer Nationalhistoriographien aus dem östlichen Mitteleuropa gegenüber der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts ist für Markus Koller Anlass, mit seiner Habilitationsschrift zur Füllung dieser Forschungslücke beizutragen. Er wählt dafür einen kulturwissenschaftlichen Ansatz – schon das vielgliedrige Inhaltsverzeichnis verdeutlicht dies –, der auf den weithin gelungenen Versuch einer Neubewertung meist schon bekannter Einzelerkenntnisse zur ungarischen Geschichte zwischen 1520 und 1699 hinausläuft. Aber dazu kommt ebenso eine wesentliche neue Komponente – die Einbeziehung der osmanischen Quellen bzw. der Vergleich der Befunde aus beiden Historiographien insbesondere zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte im 17. Jahrhundert.

Koller unterlegt seine Darstellung neben der bekannten Sekundärliteratur mit einer beeindruckenden Quellenauswertung aus westlichen (vor allem ungarischen) wie osmanischen Archiven. Zu deren Analyse verwendet er ein vierteiliges, auf dem Raum-Paradigma (Dazu beispielsweise Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a. Main 2006.) aufbauendes kulturwissenschaftliches Raster, das er, ansatzweise, immer wieder mit zutreffenden kritischen Bemerkungen zu altgewohnten Stereotypen aus der nationalen (ungarischen wie osmanischen), aber auch der westlichen Geschichtsschreibung verbindet. So werden stereotyp in den Quellen aus dem 17./18. Jahrhundert wie in neueren Fachliteratur immer wiederkehrende Konzepte hinterfragt, beispielsweise die „menschenleeren Räume“, die „Autonomie“ der ungarischen Städte unter osmanischer Herrschaft – eine von Klára Hegy und Gábor Ágoston vertretene These (S. 111 ff.) –, der „Priestermangel“, die angebliche Kontinuität des mittelalterlichen Ungarnreiches im osmanischen Kontext u. a. m.

In anregender Art und Weise setzt Koller etliche dieser Stereotype zu anderen, meist ähnlichen Kontexten in Bezug. Er vergleicht z. B. das habsburgisch-osmanische „condominium“ mit anderen linear nicht genau festgelegten Grenzgebieten (Pyrenäengrenze, Elsass – Französische Besitzungen entlang der Ostgrenze reichten damals in viel höherer Zahl ins Hoheitsgebiet des Reiches –, S. S11), in denen sich im 17. Jahrhundert die „Doppelherrschaft“ (S. 10–11) am Grundbesitzstand orientierte. Dabei gelingen ihm geschickte Zusammenfassungen bzw. klare Schlussfolgerungen nach bereits bekannten Forschungsständen anderer, beispielsweise: Erst „Spätestens im 19. Jahrhundert lässt sich dann von nationalstaatlichen Grenzen sprechen, die Jurisdiktions- und Souveränitätsansprüche territorial begrenzten bzw. kennzeichneten.“ (S. 14, Anm. 22 mit Bezug auf Jürgen Osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen 2001, S. 212.) Zwei weitere Beispiele zu schwierigen Einzelfragen seien noch herausgegriffen: Das „Patronatsrecht“ des ungarischen Königs bei der Bischofswahl oder die Auslegung der in Quellen des 17. Jahrhunderts häufig gebrauchten Formulierung „Regnum Hungariae sub Turcis“ (S. 93–94), die die Behauptung einer ‚Kontinuität‘ des mittelalterlichen Stephansreichs nach dessen Vernichtung 1526/1541 untermauern sollte. Koller steuert hier zum „Patronatsrecht“ eine leicht verständliche Klärung durch Einbeziehung neuerer Forschungsergebnisse von Dubravko Lovrenović und Ántal Molnár (S. 88–90) bei, ohne jedoch auf grundlegende, aber ältere Arbeiten einzugehen. Indem er die osmanische Herrschaft in Ungarn nicht in traditioneller Manier als „islamische Fremdherrschaft über ein christliches Territorium“ untersucht, kann er deren „strukturgeschichtliche Merkmale“ (S. 178) klar herausarbeiten. (Hier fehlt ein Hinweis auf die ältere, umfassend-korrekte, aber umständliche Darstellung dieser jahrhundertelang äußerst umstrittenen Frage, durch P. Remigius Ritzschel: Die Bischöfe der ungarischen Krone, in: Römische Historische Mitteilungen 13 [1971], S. 137–164.)

Abgesehen von seiner referierenden Vorgehensweise legt Koller auf die Strukturierung des Stoffs in kulturwissenschaftliche Raster und Kategorien den Hauptakzent. 1. „Der ‚menschenleere Raum‘ – die Wahrnehmung Osmanisch-Ungarns in Ungarnbeschreibungen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ (S. 52–71); 2. „Der religiöse Raum – Osmanisch-Ungarn im Spannungsfeld religiös-spiritueller Zentren“ (S. 72–110); 3. „Die Autonomie ungarischer Städte – die Erfassung des Raumes durch die osmanische Administration“ (S. 111–142); 4. „Die Durchdringung des Raumes im Zeichen eines gesellschaftlichen Wandels“ (S. 143–176). Dem Raum-Raster wird ein weiteres Konstrukt unterlegt, anhand dessen u. a. „Struktur-, Wahrnehmungs- und Handlungsräume“ in den vier Unterkapiteln ausgemacht werden. Zweifellos am anregendsten und erkenntnisreichsten sind die letzten beiden Kapitel, in denen die sogenannte Doppelherrschaft an Beispielen aus der Steuerpolitik und gemischten Verwaltung exemplifiziert wird. Sie entsprechen auch weitgehend der Titelvorgabe, eine „Gesellschaft im Wandel“ darzustellen.

In dieser nicht immer überzeugenden Absicht werden ältere, teils überholte Forschungsstände (B. Pandžić, K. Juhász) mit neuen gemischt, andere ignoriert (etwa die Bevorzugung von ungarischsprachigem Weltklerus gegenüber südslawischen Franziskanern durch die ungarische Hierarchie im Königlichen Ungarn), wenn sie den Thesen des Autors entgegenkommen. Auch das Paradigma „Erinnerungsliteratur“ hinsichtlich serbischer Klosterkultur wird überbetont, Einzelheiten werden übersehen (z. B. dass die Himmelfahrts- und die Marien-Kapelle in Maria Radna ein und dieselbe sind, S. 98–99) u. a. m. Im 1. Kapitel etwa vermisst man jeglichen Bezug auf die niederländische und deutsche Kartographie des 17. Jahrhunderts, etwa mit Atlaswerken von W. J. Blaeu (1631), J. Jansson (1633) oder J. B. Homann (1716), in denen auch konkretere Beschreibungen der ostmitteleuropäischen Regionen – etwa Ungarns, Slawoniens, Siebenbürgens, der Walachei und Moldau etc. – vorhanden waren. Das tiefergehende Verständnis mancher mittelalterlicher Begriffe (wie nationes) fehlt. Durch solche Ungenauigkeiten entsteht mitunter eine gewisse ungewollte Ambivalenz.

Ein Glossar mit osmanischen Fachbegriffen und eine kleine Ortsnamenskonkordanz sowie „der Versuch einer Gesamtbibliographie“ (S. 188–201) runden das Werk ab. Allerdings sind dem Autor bei letzterem so manche Titel entgangen. Ein Register fehlt leider.

Krista Zach, München

Zitierweise: Krista Zach über: Markus Koller: Eine Gesellschaft im Wandel. Die osmanische Herrschaft in Ungarn im 17. Jahrhundert (1606–1683). Stuttgart: Steiner, 2010. 226. S. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 37. ISBN: 978-3-515-09663-8, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Zach_Koller_Gesellschaft_im_Wandel.html (Datum des Seitenbesuchs)

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