Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Myrtan Xhyra

 

Georgia Kretsi Verfolgung und Gedächtnis in Albanien. Eine Analyse postsozialistischer Erinnerungsstrategien. Harrassowitz Verlag Wies­baden 2007. 321 S., 2 Abb. = Balkanologische Veröffentlichungen, 44. ISBN: 978-3-447-05544-4.

Seit dem Fall des Kommunismus erscheinen in Albanien ebenso wie in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks zahlreiche Publikationen, die sich mit den individuellen Erinnerungen an diese Periode beschäftigen. Zu den Autoren gehören ehemalige politische Führer des Landes, Opfer der politischen Verfolgung und deren Hin­terbliebene. Dennoch bleibt der Umgang der albanischen Gesellschaft mit der kommunistischen Vergangenheit weiterhin sehr schwierig. Besonders den im Sozialismus aufgewachsen Generationen gelingt es immer noch nicht, sich  neutral mit dieser Zeit auseinanderzusetzten.

Die Sozialanthropologin Georgia Kretsi befasst sich in ihrer Dissertation mit der Erinnerungsstrategie der albanischen Bevölkerung und der Rolle von politischer Gewalt im Gedächtnisprozess des postsozialistischen Albaniens. Für die Feldforschung hat die Autorin sich bewusst eine Region an der Grenze zu Griechenland ausgewählt. Das Verhältnis zwischen der kom­munistischen Regierung und der Bevölkerung in dieser Region war von Misstrauen geprägt, denn es bestanden sowohl verwandtschaftliche als auch ökonomische Beziehungen zur anderen Seite der Grenze. Diese Grenzregion ist zudem auch noch durch die Frage der Çamëria, der griechischen Minderheit in Albanien, sowie durch die unterschiedliche politische und ideologische Ausrichtung der beiden Länder in der Zeit des Kalten Krieges belastet.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Grundlagen, auf denen die Arbeit beruht. Im zweiten Teil wird der gesell­schaftshistorische Rahmen des sozialistischen Albaniens anhand der Grenzpolitik, der Gedächtnispolitik und der Verfolgungsmechanismen dargestellt. Der dritte Teil umfasst die empirische Analyse der Interviews, die im letzten Teil zusammengefasst werden.

Die Feldforschung der Autorin beruht auf persönlichen Gesprächen und eigenen Beobachtungen. Es werden Personen und Familien interviewt, die während der zwei großen Säuberungswellen verfolgt wurden. In der überwiegenden Mehrheit geht es dabei um Fälle, in denen die ganzen Familien betroffen waren. Kretsi benutzt das Gedächtnis als Mittel zur Rekonstruktion der Geschichte. So werden viele Erinnerungen der Menschen mit Ereignissen der Geschichte verknüpft, z.B. die Machtübernahme der Kommunisten, die beiden Säuberungswellen, der Grenzkonflikt mit Griechenland und der Fall des Regimes.

In Albanien wurden in Anlehnung an die Politik Stalins die Familien in so genannte „gute‟ und „schlechte‟ Familien eingeteilt. Die Verfolgungsopfer der letzteren und die ganzen Familien hatten keine Chancen auf Rehabilitation. Die dadurch innerhalb der Bevölkerung geschürte Angst war groß, denn den Mitgliedern „schlechter‟ Familien wurde eine Parteimitglied­schaft und die damit verbundene Chance auf eine gesellschaftliche oder politische Führungsposition verwehrt. Ihren Kindern wurde das Hochschulstudium als Ausgangsbasis verweigert, und somit wurden sie zeitlebens vom normalen Leben in der Gesellschaft ausgeschlossen. Auch durch eine Ehe gab es aus diesem Teufelskreis kein Entrinnen, denn Verbindungen mit Kindern aus „schlechten‟ Familien waren unerwünscht. Für die Autorin geht es in dieser Arbeit nicht nur um individuelle Erlebnisse, sondern auch um die subjektiven Wahrnehmungen der Geschehnisse, die Rückschlüsse auf soziale Zusammenhänge ermöglichen sollen.

Das Buch von Georgia Kretsi ist eine gelungene und sachliche Studie über die Lebenssituationen der Menschen im kommunistischen Albanien. Eine albanische Veröffentlichung in die nähere Zukunft wäre wünschenswert.

Myrtan Xhyra, München

Zitierweise: Myrtan Xhyra über: Georgia Kretsi Verfolgung und Gedächtnis in Albanien. Eine Analyse postsozialistischer Erinnerungsstrategien. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2007. = Balkanologische Veröffentlichungen, 44. ISBN: 978-3-447-05544-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Xhyra_Kretsi_Verfolgung_und_Gedaechtnis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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