Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 3, S. 438-440

Verfasst von: Claudia Woldt

 

Christiane Brenner: „Zwischen Ost und West“. Tschechische politische Diskurse 1945–1948. München: Oldenbourg, 2009. VII, 554 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 118. ISBN: 978-3-486-59149-1.

Diskurse tragen dazu bei, Wirklichkeit zu konstituieren. Diese von der Autorin vertretene These, die zugleich ihrer Untersuchung den methodischen Rahmen verleiht, ist mittlerweile so etabliert, wie sie lange Zeit umstritten war. Mit ihrer Arbeit zu den knapp drei Jahren zwischen Kriegsende und dem „kommunistischen Putsch“ 1948 in der Tschechoslowakischen Republik ist es der Verfasserin gelungen, der Anwendbarkeit der historischen Diskursanalyse selbst einen eindrucksvollen Beweis hinzuzufügen. Dabei geht sie mit den Verfahren der kritischen Diskursanalyse (inspiriert von Siegfried Jäger und Achim Landwehr) der Frage nach, welche Sprechweisen, Argumentationsformen, Topoi und Konnotationen semantischer Schlüsselkonzepte die Auseinandersetzungen der tschechischen politischen Elite(n) der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt und damit die weitere politische Entwicklung bestimmt haben. Wie konnte sich nach einer politisch differenzierten, demokratisch verfassten Ersten Republik so schnell ein 40-jähriges kommunistisch regiertes Einheitssystem formen lassen? Mithilfe einer an Texten und ihren Erzeugungs- und Perzeptionsregeln orientierten Analyse wird der Versuch unternommen, den Prozess der Aushandlung der politischen und sozialen Zukunft einer Gesellschaft und Nation nachzuvollziehen, die vom Scheitern der Ersten Republik, der Okkupation durch die Deutschen und dem als Verrat empfundenen Münchner Abkommen 1938 stark geprägt war. Dass dabei die weithin als geradlinig angenommene, von der Sichtweise der Kommunisten dominierte Entwicklung hin zu deren endgültiger Machtübernahme auf den Prüfstand gestellt werden musste, versteht sich fast von selbst. Überraschend ist dennoch der klare Befund einer alles andere als einseitigen, von mehreren politischen Lagern geführten Debatte um die Deutung der nationalen Vergangenheit einschließlich ihrer „Niederlagen“ sowie der Zukunftsvisionen, die in dieser Übergangszeit durchaus noch nicht in einem Maße festgelegt waren, wie vielfach angenommen wird. Der Diskurs um die Position der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Krieg zwischen den Alliierten und damit sowohl politisch als auch geografisch zwischen Ost und West, hatte gleichwohl seine Grenzen: Akteure wie Themen waren weitgehend festgelegt, Sprechweisen „eingeübt“, herrschende Deutungen wurden übernommen, Kritik nur in engen Grenzen zugelassen. Insofern stimmt das Bild mit gängigen Vorannahmen überein. Dennoch kann die Autorin an fünf ausgewählten, für die politischen Debatten maßgeblichen Themenbereichen zeigen, dass diese Grenzen zwar vorhanden waren und den politischen Diskurs zu einem scheinbar homogenen machten; gerade diese Grenzen erzwangen jedoch auch Ausweichschauplätze, semantische Ausdifferenzierungen und alternative Sprechweisen, die sozusagen ‚hintenherum‘ doch eine gewisse Vielfalt und Vieldeutigkeit zuließen. Für die Analysen wurden hauptsächlich ca. 40 Tages- und Wochenzeitungen ausgewertet, die das Meinungsspektrum abdecken. Das Phänomen „Volksdemokratie“, um dessen inhaltliche Ausdeutung es allen Akteuren gleichermaßen ging, wird im ersten Kapitel anhand der historischen Deutung der Ersten Republik und des Krieges analysiert. Dabei zeigt sich, dass alle Lager – von den Kommunisten bis hin zur katholischen Volkspartei – darum bemüht waren, mithilfe historischer Argumente den Bruch als legitimierbare Kontinuität darzustellen. Die Einheit der tschechischen Nation wurde unter verschiedenen Vorzeichen (Demokratie oder Kommunismus) zum Garanten für eine gelingende Zukunft stilisiert. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie sowohl der Diskurs um die jüngste Geschichte als auch die Visionen für die zukünftige tschechische Position in Europa von den Erfahrungen mit den Deutschen geprägt waren. Dem neu zu formenden „Wir“ konnte mit den als existenziell bedrohlich erlebten Nachbarn ein Gegner entgegengesetzt werden, der diskursive Vorgänge der Inklusion und Exklusion ermöglichte wie auch prägte. Das zeigte sich nicht nur in der Deutung der Vertreibungen als notwendige „Reinigung“, sondern unter anderen Vorzeichen beispielsweise auch in den Debatten um die neu zu besiedelnden Grenzgebiete. Um diese geht es im dritten Kapitel, dessen Analysen eine zunehmend kritische Haltung zu Remigranten nachweisen, während tschechische Altsiedler immer mehr als die „guten“ Tschechen gegen sie ausgespielt wurden. Auch hier zeigt sich ein „Nebenschauplatz“ als geeignet, um den Ängsten einer nationalen Mehrheit Ausdruck zu verleihen. Mit ebenso beeindruckender Materialfülle widmet sich das vierte Kapitel dem titelgebenden Thema der Arbeit, also der diskursiven Aushandlung der Positionierung der Tschechoslowakei zwischen Ost und West. Versuchten sich die einen in einer neuen Spielart des Panslawismus, sahen andere die tschechische Nation als synthetisierendes Bindeglied zwischen der Sowjetunion und dem Westen. Die neue sowjetische Gesellschaft wurde fast durchweg positiv bewertet, das zeigen u.a. zahlreiche Reiseberichte. Die Akzeptanz des „großen Bruders“ als einzige Orientierungsleitlinie verstand sich 1945 jedoch noch lange nicht von selbst. Das zeigen die durchaus kontrovers geführten Debatten um die Autonomie der Kunst ebenso wie der Umgang mit dem Marshallplan, der ursprünglich ganz Europa zugute kommen sollte. „Kontrovers“ meint freilich nicht, darauf weist die Autorin zurecht immer wieder hin, dass tatsächlich offen gestritten wurde, dass gegensätzliche Positionen ohne Weiteres öffentlich artikuliert werden konnten. Kontroversen mussten den Diskursregeln entsprechend subtil ausgetragen werden; es kam zu so interessanten Phänomenen wie Diskursimitationen oder auch Diskursanleihen (z.B. aus der westlichen Presse, um die eigene Kritik zu legitimieren), die auch diskurstheoretisch bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind. Auch hier zeigt die Arbeit interessante Perspektiven auf. Im abschließenden fünften Kapitel schließlich wird der Frage Raum gegeben, wie die neu zu organisierende Machtverteilung aussehen sollte, wie sich die Parteien, das Parlament, das Volk, Gewerkschaften usw. im neuen System zu positionieren hätten. Dass Beneš schließlich nur die Wahl hatte, eine Volksdemokratie unter kommunistischen Vorzeichen einzuführen oder auf seine Machtbeteiligung ganz zu verzichten, lässt sich ebenfalls anschaulich als Ergebnis diskursiver Verengungen und Grenzziehungen verstehen.

Christiane Brenner wirft mit ihrem Buch zahlreiche neue Lichter auf die diskursiven Prozesse einer zwischen Neubeginn und Fortführung schwankenden Nation, ihr material- und deutungsreiches Werk, das hier nur schlaglichthaft vorgestellt werden konnte, bietet sicher nicht nur Historikern Anregung, sondern kann gleichermaßen als Brücke zu Forschungsfragen der linguistischen oder kulturwissenschaftlichen Diskursanalyse gelesen werden. Und schließlich wird auch jeder interessierte Laie aus der sehr gut lesbaren Lektüre neue Erkenntnisse darüber gewinnen können, wie es der kommunistischen Macht­elite nach 1945 gelingen konnte, trotz eines moralisch fundierten und demokratisch gesinnten Gegendiskurses ihre Positionen fast widerstandslos durchzusetzen. Ein Personenregister und ein sorgfältig editiertes kommentiertes Personenverzeichnis runden das Werk ab.

Claudia Woldt, Dresden

Zitierweise: Claudia Woldt über: Christiane Brenner: „Zwischen Ost und West“. Tschechische politische Diskurse 1945–1948. München: Oldenbourg, 2009. VII, 554 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 118. ISBN: 978-3-486-59149-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Woldt_Brenner_Zwischen_Ost_und_West.html (Datum des Seitenbesuchs)

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