Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 331-332

Verfasst von: Anja Wilhelmi

 

Mark R. Hatlie: Riga at War 1914–1919. War and Wartime Experience in a Multi-ethnic Metropolis. Marburg: Herder-Institut, 2014. 362 S., 11 Abb., 10 Tab., 2 Ktn. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 30. ISBN: 978-3-87969-377-1.

Die überarbeitete Fassung von Mark Hatlies Doktorarbeit schließt eine Forschungslücke zur Historiografie der Geschichte Rigas während des Ersten Weltkriegs. In Riga at War werden die Geschehnisse in der baltischen Metropole unter militärgeschichtlichen und politischen Aspekten untersucht, wobei sowohl Vorkriegs- als auch Nachkriegszeit angemessen einbezogen werden. Neben Besatzungen, kriegerischen Auseinandersetzungen, Flucht, Vertreibungen und Deportationen stehen sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte im Fokus. Wie im Untertitel War and Wartime Experience in a Multi-ethnic Metropolis angekündigt, werden insbesondere die Erfahrungen der ethnischen Bevölkerungsgruppen Rigas gesondert betrachtet, die divergierenden Narrative gefiltert. Und hier liegt auch die Stärke des Buches: Anhand von autobiographischen Erfahrungen gelingt es Hatlie, seinen historiographisch-faktologischen Erzählstrang durch Multiperspektivität zu durchbrechen. Wie Erfahrungsgeschichte gewinnbringend mit der übergeordneten Matrix der „Ereignisgeschichte“ verknüpft und gespiegelt werden kann, wird hier exemplarisch gezeigt.

Den multiethnischen Charakter, „the ethno-confessional fragmentation“ der Halbmillionenstadt (S. 26) greift Hatlie mit Quellen der lettischen Mehrheitsbevölkerung, der russischen sowie der deutschen Minderheit auf, wohl wissend, dass auch hier der zur Verfügung stehende Quellenbestand nur einen Ausschnitt an Erfahrungswerten bieten kann. Wie unterschiedlich die Perzeption von jeder Ethnie bzw. deren Elite ausfallen konnte, wird in der sorgfältigen Bearbeitung der autobiographischen Quellen deutlich. Hatlie begibt sich – dies sei in diesem Kontext ergänzt – mit seinem Gebrauch der Kategorie „Ethnie“ nicht in den oft schwer zu verhandelnden Diskurs um Nationalität, nationale Identität oder Indifferenz.

Die wenigen Jahre zwischen dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 und dem Friedensvertrag mit Sowjetrussland im Jahr 1920 prägten Riga in Form von Gewalt und politischer Instabilität: Besatzungen, Bürgerkrieg, Regimewechsel und wirtschaftliche Einbrüche stellten die Stadt an der Daugava/Düna vor bis dato unbekannte demographische und soziale Herausforderungen. Denn noch 1914 stellte Riga mit seiner gefragten Hafenlage und seinem enormen Industriewachstum eine der wirtschaftlich und militärisch wichtigsten Metropolen des Russischen Reiches dar. Doch schon die ersten Vorboten der militärischen Auseinandersetzung brachten Flüchtlingsströme, Massenevakuierungen und den Abbau von Industrieanlagen, worauf nach jahrelangem Belagerungszustand die deutsche Besatzungszeit folgte. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg führte zu einer ersten, kurzen Phase lettischer Nationalstaatlichkeit, die nur allzu bald von einem kommunistischen Regime abgelöst wurde. Das Ringen um die politische Macht dominierte den Alltag der Rigaer Bevölkerung bis weit ins Jahr 1919.

Der Verfasser spürt diesen Gewalterfahrungen nach, indem er Einzelereignisse wie den Besuch Zar Nikolaus I. vor dem Krieg, Begräbnisfeiern anlässlich der ersten gefallenen lettischen Soldaten, den Geburtstag Kaiser Wilhelms II. während der Zeit der deutschen Besatzung oder auch die 1.-Mai-Feiern während des kommunistischen Regimes 1919 als Gedächtnisorte der jeweiligen ethnisch geprägten Bevölkerungsgruppen analysiert. Mithilfe dieser Erinnerungspunkte schafft er ein „memorial landscape“, auf dem die unterschiedlichen Perzeptionen kaum deutlicher zu Tage treten könnten. Gerade Gedenkfeiern bieten wie wohl kaum andere Erinnerungsorte den öffentlichen Raum für Manifestationen von Gruppenzugehörigkeiten bzw. Loyalitäten und geben Aufschluss über ethnisch-nationale Differenzen.

Mit diesem Vorgehen gelingt es dem Verfasser, die unterschiedlichen Haltungen der Bevölkerungsgruppen gegenüber den jeweiligen „Staatsmächten“ herauszuarbeiten und einander gegenüberzustellen: Für die lettische und damit größte Bevölkerungsgruppe mit einem Bevölkerungsanteil von ca. 40 %, die erstmals nach Jahren der deutschen Vorherrschaft die politischen Instabilitäten nutzen konnte, um eigene nationalstaatliche Perspektiven zu entwickeln, wurde Riga das Symbol im Kampf um staatliche Unabhängigkeit. Die zweitgrößte städtische ethnische Gruppe, die russische Bevölkerung mit einem Anteil von ca. 20 %, verschwand infolge der Evakuierung 1915 für lange Zeit aus dem Stadtbild. Die politische Vision der über Jahrhunderte dominierenden, allerdings nur noch ca. 13 % der Einwohnerschaft Rigas zählenden deutschen Bevölkerung bestand in den Zeiten der deutschen Besatzung darin, den Anschluss an das Deutsche Reich zu erträumen. Riga wurde somit zu einem Schauplatz, an dem sich mehr als in anderen Städten des großen Russischen Reiches der Zusammenhang des Untergangs des Imperiums mit dem Untergang des Deutschen Reiches mit allen Folgen nachzeichnen lässt.

Bei dem Kampf um die Vorherrschaft in Riga ging es daher um mehr als um die Frage der städtischen Dominanz. Die lettische und die deutsche Seite stritten um die politische Ausrichtung und Orientierung einer ganzen Region, was bekanntlich in der Bildung eines Nationalstaates münden sollte.

Neue Räume entstehen, alte können neu besetzt werden. Das „spacing“ im Sinne Andrea Löws zeigt sich hier, in Riga, in den lokalen Machtkämpfen um Kirchen oder andere kulturelle Stätten. Dabei handelte es sich nicht nur um Aushandlungen zwischen den Interessen der Kirchen; vordergründige Glaubenskämpfe konnten, wie am Beispiel der Inbesitznahme von Kirchen – so die russisch-orthodoxe Kirche durch die Deutschen – gezeigt wird, staatlich gelenkt und politisch im Sinne von Herrschaftsaneignungen motiviert sein.

Die Wahrnehmung der Kriegsereignisse – so lautet daher Hatlies Fazit – lässt sich in der Kategorie ethnischer Zugehörigkeit und Identität filtern. Diese zum Teil gegensätzlichen Perzeptionen wurden jedoch erst durch die gerade an der Macht beteiligten staatlichen Mächte bzw. politischen Autoritäten forciert. Sie waren maßgeblich daran beteiligt, eine gemeinsame und verbindende Ausgestaltung der Erinnerung und des Gedenkens zu verhindern.

Hatlie lässt seinen Blick über ethnisch-national determinierte Erfahrungs- und Handlungsmuster in den Raum postimperialer Erfahrungen schweifen, wie sie Minderheiten und Mehrheiten in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges in zahlreichen osteuropäischen Ländern, zwischen den Reichen stehend, erleben mussten. Rigas Bevölkerung erlebte wohl stärker als in den meisten anderen Städten die Folgen davon, in den maelstrom of world politicsgeraten zu sein (S. 315).

Anja Wilhelmi, Lüneburg

Zitierweise: Anja Wilhelmi über: Mark R. Hatlie: Riga at War 1914–1919. War and Wartime Experience in a Multi-ethnic Metropolis. Marburg: Herder-Institut, 2014. 362 S., 11 Abb., 10 Tab., 2 Ktn. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 30. ISBN: 978-3-87969-377-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wilhelmi_Hatlie_Riga_at_War.html (Datum des Seitenbesuchs)

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