Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 4, S. 622-623

Verfasst von: Anja Wilhelmi

 

Svetlana Bogojavlenska: Die jüdische Gesellschaft in Kurland und Riga 1795–1915. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 243 S. Abb. = Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart. ISBN: 978-3-506-77128-5.

Mit ihrer 2008 an der Universität Mainz eingereichten Doktorarbeit geht die Verfasserin  auf eine aktuelle Forschungsdiskussion ein: die seit einigen Jahren im Kontext der Antisemitismusdebatte anschwellende Kontroverse über das Verhältnis von Letten und Juden, in deren Mittelpunkt die lettische Beteiligung am Judenmord in Lettland steht, –  eine Debatte, zu der sich Bogojavlenska mit berechtigten Vorbehalten äußert,da es so gut wie keine Forschungen zur Geschichte der Juden und zum lettisch-jüdischen Verhältnis auf dem Territorium des späteren lettischen Staates […] gibt(S. 14). Diese Lücke für dierussische Zeitzu füllen, stellt daher ein erklärtes Ziel in der vorliegenden Forschungsarbeit dar.

Räumlich wird mit der Arbeit das Gouvernement Kurland und die Stadt Riga, zeitlich die Periode der Zugehörigkeit Kurlands zum Russischen Reich von 1795 bis 1915 erfasst. Damit wird ein sinnvoller Untersuchungsrahmen gewählt, der mit der Aussiedlung der jüdischen Bevölkerung aus Kurland infolge des Kriegsausbruchs abschließt.

Die Verfasserin gliedert ihre Arbeit in drei große Teile, wobei Teil I Fragen zur rechtlichen Stellung der Juden im untersuchten Gebiet insgesamt gewidmet ist, während in Teil II (für Kurland) und Teil III (für die Stadt Riga) Fragen zu Organisation und Bevölkerungsentwicklung sowie die Bereiche Wirtschaft, Kultur, Religion und gesellschaftliche Strukturen abgehandelt werden. Darunter fallen auch Aspekte der Fremdwahrnehmung, die Sicht von außen auf die jüdischen Bevölkerungsgruppen sowie die politische Partizipation der Juden.

In Teil I folgt die Verfasserin dem chronologischen Prinzip, wobei die Regierungszeiten der Zaren die Darstellung strukturieren. In diesem Teil wird die Interdependenz zwischen den wirtschaftlichen Erfolgen jüdischer von Teilen der jüdischen Bevölkerung und der (rechtlichen) Toleranz der Regierenden und der staatlichen Administration an diversen Beispielen herausgearbeitet. Deutlich wird in diesem Kontext auch, dass seitens der staatlichen Politik in Abhängigkeit von wirtschaftlichen Faktoren zwischen einzelnen jüdischen Bevölkerungsteilen differenziert wurde. Wie grundsätzlich schwierig und komplex die Umsetzung rechtlicher, zentralstaatlicher Verordnungen im Einzelnen innerhalb des Russischen Reiches war, kann Bogojavlenska überzeugend anhand ihres Untersuchungsraumes nachweisen, denn mit Riga und Kurland liegen zwei Regionen vor, die just außerhalb des Ansiedlungsrayons und damit außerhalb von gesetzlichen Regelungen lagen.

Die Kapitel „Organisation und Bevölkerungsentwicklung“, welche die Teile II und III jeweils eröffnen, zeichnen sich insbesondere durch die zahlreichen grafischen Darstellungen aus, anhand derer soziologische Beziehungspunkte, prozentuale Aufschlüsselungen anschaulich gemacht werden, bevor konkrete Fragen zum Beziehungsgeflecht der Bevölkerungsgruppen erörtert werden.

In Teil III der Abhandlung (Die Juden in Riga) folgt die Verfasserin dem Untersuchungs- und Gliederungsschema von Teil II (Die Juden in Kurland) und macht dem Lesenden auf diese Weise den Vergleich der beiden Regionen möglich. Die Gegensätze werden relativ schnell sichtbar: eine von sozialer Disparität geprägte jüdische Stadtbevölkerung auf der einen und eine weitgehend homogene jüdische Landbevölkerung auf der anderen Seite.

Auf der politischen Ebene gelingt es Bogojavlenska, die für Riga stärker noch als für Kurland schwankende Politik gegenüber den Juden zwischen den jeweiligen, oftmals konkurrierenden Autoritäten, insbesondere zwischen Stadtrat, Gouvernement und Zentralregierung, herauszuarbeiten.

Hervorzuheben ist der Abschnitt über die Organisationsstrukturen und die sprachliche und kulturelle Heterogenität der jüdischen Bevölkerung Rigas, welche die Verfasserin am Beispiel des Bildungsverhaltens, der Schulwahl, auf der Basis von gemeinde­internen Auseinandersetzungen um Ämterbesetzungen u.Ä. illustriert. Ein überaus interessantes Licht wirft die Verfasserin in diesem Kontext auf die Initiativen jüdischerKulturvereine, u.a. des Bildungsvereins und des Herrenklubs, in denen mit Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts „Frage[n] nach der jüdischen nationalen Identitätnachgegangen wurde. (S. 182) Anders als in St. Petersburg hatte sich nämlich der Rigaer Bildungsverein auf die Fahnen geschrieben,das Selbstbewusstseinunter den Rigaer Juden zu stärken. Eine bloß integrative Zielsetzung existierte hier nicht. (S. 184)

Dem Blick auf die Mikroebene folgt in jedem Kapitel eine Erweiterung auf die Makroebene. Mit diesem Vorgehen kann Bogojavlenska beispielsweise die Unterschiede der jüdischen Gesellschaften in Kurland und Riga im Gegensatz zu anderen jüdischen Gesellschaften im Russischen Reich anhand ihrer regionalen Spezifik als imSpannungsfeld zwischen drei Kulturenstehend belegen (S. 185) – einem Spannungsfeld, daswie hinlänglich bekannt1905 eine politische Radikalisierung erfuhr.

Eine der Stärken des Buches ist es, dass die Verfasserin gerade an den Punkten, an denen  verschiedene politische Richtungen sichtbar werden, diese Kontroversen mithilfe der Diskursanalyse anschaulich und detailliert darstellt. Dabei bleibt ihr Blick nicht den Diskursen innerhalb der Region verhaftet, sondern bezieht die Rezeption außerhalb Kurlands mit ein.

Der Lesegenuss des Buches wird nicht allein durch die kompakte und überaus informative Darstellung der bislang unzureichend erforschten jüdischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Rigas und Kurlands begründet. Die Untersuchung zeigt viele neue Aspekte einer regionalen Geschichtsschreibung auf; auf komparatistischer Ebene werden Bevölkerungsorganisationen und -strukturen, das Leben mit- und gegen- und nebeneinander in sich jeweils verändernden politischen Bezugsgrößen dargestellt.Die jüdische Gesellschaft in Riga und Kurlandzu untersuchen – dies veranschaulicht uns die Verfasserin – bedeutet weit mehr als die Fokussierung auf einen Bevölkerungsteil, Ergebnisse werden erst im Kontext einer weiträumigen Perspektive nachvollziehbar, in der Handlungsweisen und -optionen aller Bevölkerungsteile nachgezeichnet sind.

Anja Wilhelmi, Lüneburg

 

Zitierweise: Anja Wilhelmi über: Svetlana Bogojavlenska: Die jüdische Gesellschaft in Kurland und Riga 1795–1915. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 243 S. = Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart. ISBN: 978-3-506-77128-5., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wilhelmi_Bogojavlenska_Die_juedische_Gesellschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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