David L. Ransel, Bozena Shallcross (Hrsg.) Polish Encounters, Russian Identity. Indiana University Press Bloomington, IN 2005. VII, 218 S. = Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies.

Die Hauptthese des Bandes, der auf die multidisziplinäre Tagung „Polonophilia and Polonophobia of the Russians“ (Indiana University, 16.–17. September 2000) zurückgeht, lautet, die Formierung russischer Identität in der Neuzeit sei wesentlich in Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von Polen erfolgt. Selbst die endgültige Verschiebung der politischen Gewichte mit den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahr­hun­derts habe die Angst, Russlands Identität werde durch die polnische Kultur zersetzt, nicht beseitigen können.

Die einzelnen Beiträge liefern Beispiele zur Illustration dieser These aus unterschiedlichen historischen Epochen und Disziplinen. So wird beispielsweise ausgeführt, die Unterstellung der Polonophilie und damit der Verdacht der Russenfeindschaft habe ebenso zur Bekämpfung der Unierten unter Katharina der Großen (Barbara Skinner) wie zu einer Kampagne gegen den ukrainischen Nationalismus in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geführt, wobei der sowjetischen Propaganda das Kunststück gelungen sei, selbst die ukrainisch-nationalistische OUN als Fünfte Kolonne darzustellen, die eine polnische Intervention in der Sowjetukraine vorbereite (Matthew D. Pauly). Leonid Gorizontov in­ter­pretiert die Diskussion über eine Neuziehung der Verwaltungsgrenzen im Russländischen Reich während des 19. Jahrhunderts in geopolitischen Kategorien und sieht als handlungsleitendes Motiv der Akteure den Kampf um bzw. die Furcht vor der Wiederherstellung Polens in seinen alten Grenzen. Robert L. Przygrodzki legt dar, wie die Um­nutzungen und architektonischen Umgestaltungen des Staszic-Palastes im Zentrum Warschaus unterschiedliche Phasen russischer Herrschaftssicherung und Besatzungspolitik einerseits sowie das Selbstbewusstsein der polnischen Nationalbewegung andererseits widerspiegeln. Stark kontextabhängig ist nach Ha­li­na Goldberg hingegen die Funktion polnischer Elemente in der russischen Musik. So identifizierten Mazurka und Polonaise in Glinkas Oper „Leben des Zaren“ die „bösen Polen“, während dieselben Tänze in anderen Situationen zur selben Zeit als russisch gelten und positiv konnotiert sein konnten. Noch komplexer ist der Fall von Nadežda Durova: Nicht zuletzt, weil sie For­men polnischer Galanterie übernahm, konnte sie während der Napoleonischen Kriege erfolgreich in die Rolle eines russischen Offiziers schlüpfen (Beth Holmgren).

Bot der polnische Aufstand von 1830/31 Puškin die Gelegenheit, sich mittels seiner „antipolnischen Trilogie“ als nationaler Dichter zu profilieren (Megan Dixon), und beschleunigte der Aufstand von 1863 die Verengung des Slavo­philentums in Richtung eines ethnisch-rus­si­schen Nationalismus (Andrzej Walicki), so blieb die polnische Frage bei Vladimir Solov’ev eine Projektionsfläche für seine geschichtsphilosophische Konzeption (Manon de Courten). Weitere literaturwissenschaftliche Beiträge gehen polnischen Motiven bei Dostoevskij (Nina Perlina), Babel’ (Judith Deutsch Korn­blatt) und Brodskij (Irena Grudzińska-Gross) nach.

Die Konzentration darauf, einen neuen Aspekt der russisch-polnischen Beziehungen herauszuarbeiten, führt dazu, dass die Rolle des Polnischen als sprachliches Fenster nach Westen etwa im Vergleich mit dem Französischen zu hoch bewertet wird. Auch die Annahme, die Russen hätten „den Westen“ allein in seiner polnischen Form rezipiert, ist an einigen Stellen zu apodiktisch formuliert, wenn man sich in Erinnerung ruft, welche Bedeutung beispielsweise Deutschland und die Deutschen in den ideologischen Debatten im Russland des 19. Jahrhunderts hatten. Insgesamt jedoch wirft der anregende Band ein neues Licht auf die Beziehungen zwischen Polen und Russen und zeigt eindrücklich, wie nachhaltig die Wahrnehmung des westlichen slavischen Nachbarn die Identitätsbildung der Russen beeinflusste.

Stefan Wiederkehr, Warschau

Zitierweise: Stefan Wiederkehr über: David L. Ransel, Bozena Shallcross (Hrsg.) Polish Encounters, Russian Identity. Indiana University Press Bloomington, IN 2005. = Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies. ISBN: 0-253-34588-X, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wiederkehr_Ransel_Shallcross_Polish_Encounters.html (Datum des Seitenbesuchs)