Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 298-299

Verfasst von: Stefan Wiederkehr

 

Christopher Gilley: The ‚Change of Signposts‘ in the Ukrainian Emigration. A Contribution to the History of Sovietophilism in the 1920s. With a Foreword by Frank Golczewski. Stuttgart: ibidem-Verlag, 2009. 455 S. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 91. ISBN: 978-3-89821-965-5.

Die zu besprechende Hamburger Dissertation bildet die erste umfassende Untersuchung sowjetophiler Strömungen in der ukrainischen Emigration der Zwischenkriegszeit. Christopher Gilleys Thema sind diejenigen Parteien, Gruppierungen und Politiker, die außerhalb der Grenzen der Sowjetukraine zur Versöhnung mit den Bolschewiki aufriefen und/oder in die Sowjetukraine zurückkehrten bzw. einreisten, obwohl sie im Bürgerkrieg auf Seiten der Weißen gestanden hatten. Mit dieser grundlegenden Gemeinsamkeit mit dem russischen smenovechovsto sowie mit der Tatsache, dass die ukrainischen Sowjetophilen unterschiedlicher Provenienz in den bolschewistischen Quellen oft als smenovechovcy angesprochen werden, begründet Gilley die Wahl seines Buchtitels. Dies darf, wie der Autor selbst mehrfach festhält, nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die seit der Dissertation Hilde Hardemans gut erforschten russischen smenovechovcy um Jurij V. Ključnikov, Nikolaj V. Ustrjalov und die Zeitschrift „Nakanune“ deutlich von den ukrainischen Sowjetophilen unterschieden. Insbesondere sehen erstere in der Sowjetunion ihre Idee vom einen und unteilbaren Russland realisiert, während letztere Anhänger des Föderalismus waren und in der Ukrainisierungspolitik der korenizacija die Grundlage für ein Bündnis mit Sowjetrussland sahen. Auch nahm die Selbstbezeichnung der ukrainischen Sowjetophilen – unter denen sich mit Mychajlo Hruševs’kyj, Volodymyr Vynnyčenko und Jevhen Petruševyč ungleich prominentere politische Figuren befanden als in der russischen smena-vech-Bewegung – in der Regel keinen Bezug auf den „Wechsel der Wegzeichen“.

Gilleys Verdienst liegt darin, erstmals aufgrund intensiver Recherchen in ukrainischen Archiven die komplexe Vielgestaltigkeit der sowjetophilen Gruppierungen in der ukrainischen Emigration mit all ihren ideologischen Reorientierungen, wechselnden Bündnissen und Annäherungsversuchen an die Machthaber der Sowjetukraine detailliert nachzuzeichnen. Emigration bedeutet dabei nicht nur ukrainischstämmige Bürgerkriegsflüchtlinge und antibolschewistische Teilnehmer am Bürgerkrieg, sondern auch die Westukrainer, die sich in den ukrainischen Siedlungsgebieten Ostgaliziens nach dem Zwischenspiel der Westukrainischen Volksrepublik (ZUNR) im polnischen Herrschaftsbereich befanden.

Die Kernthese der Arbeit lautet, dass bis zur Regelung der Ostgalizienfrage zugunsten Polens durch die Entente 1923 das populistische Erbe der Sozialrevolutionäre in der Emigration die Annäherung an die Bolschewiki begünstigte, also die Ansicht, dass die soziale und die nationale Revolution zusammenfallen würden, indem sie die ukrainischen Bauern von ihren russischen und polnischen Herren befreiten. Nachdem sich im März 1923 die Hoffnungen auf einen unabhängigen ukrainischen Staat in Ostgalizien endgültig zerschlagen hatten, habe sowjetophiles Denken in einer zweiten Periode auf der Einschätzung beruht, die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik bilde – selbst als sozialistische Republik und in einer Föderation mit Sowjetrussland – die Keimzelle eines ukrainischen Nationalstaats. Für beide Phasen würden, so der Verfasser, Erklärungen zu kurz greifen, die in den Avancen der Exilpolitiker gegenüber den Machthabern der Sowjetukraine bloß opportunistisches Kalkül und ein antipolnisches Zweckbündnis sehen würden.

Insgesamt korrigiert Gilleys Arbeit den vielerorts noch vorherrschenden russozentrischen Blick auf die antibolschewistische Emigration aus dem ehemaligen Zarenreich. Gleichzeitig lenkt er die Aufmerksamkeit auf diejenigen Gruppierungen, die sich dem jüngst von Alexander Motyl überzeugend dargestellten Rechtsrutsch in der ukrainischen Exilgemeinde der 1920er Jahre entzogen.

Stefan Wiederkehr, Berlin

Zitierweise: Stefan Wiederkehr über: Christopher Gilley The ‘Change of Signposts’ in the Ukrainian Emigration. A Contribution to the History of Sovietophilism in the 1920s. With a Foreword by Frank Golczewski. Stuttgart: ibidem-Verlag, 2009. = Soviet and Post-Soviet Politics and Society, 91. ISBN: 978-3-89821-965-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wiederkehr_Gilley_Change_of_Signposts.html (Datum des Seitenbesuchs)

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