Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  588–590

Daniel Beer Renovating Russia. The Human Sciences and the Fate of Liberal Modernity, 1880–1930. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2008. IX, 229 S. ISBN: 978-0-8014-4627-6.

Die vorliegende Studie analysiert die Expertendiskurse über Devianz in Russland vor und nach der Oktoberrevolution. Die provokative These Daniel Beers lautet, die sich im ausgehenden Zarenreich institutionell verfestigenden Disziplinen Psychiatrie, Sozialpsychologie und Kriminologie – im Bandtitel als Human Sciences bezeichnet – hätten, den stalinistischen Terror zwar nicht herbeigeführt, aber doch das intellektuelle Klima geschaffen, in dem dieser denkbar geworden sei. Denn es sei die vorrevolutionäre liberale Intelligencija gewesen, die die theoretische Grundlage für die Anwendung von staatlicher Gewalt zur Heilung (ozdorovlenie) der Gesellschaft von Pathologien geschaffen und den Selbstschutz der Gesellschaft durch die Wegschließung sozial gefährlicher Individuen wis­senschaftlich legitimiert habe. In diesem Sin­ne sei der Liberalismus in Russland 1917 nicht „gescheitert“ (S. 208), sondern er habe ein gefährliches, von den Bolschewiki bloß radikalisiertes Potential hinterlassen.

In drei Kapiteln zum ausgehenden Zarenreich analysiert Beer die zeitgenössischen Theorien über die Ursachen von psychischen Krankheiten und Kriminalität. Die liberalen Reformer hätten damals an den in ganz Europa geführten Debatten über die Frage, inwieweit psychische Krankheiten und Kriminalität vererbbar seien, partizipiert. Während sich Cesare Lombrosos These vom geborenen Verbrecher in Russland nie richtig habe durchsetzen können, sei die Degenerationstheorie Bénédict A. Morels sehr einflussreich gewesen. Dieser hatte sich am Lamarckschen Modell der Evolutionsbiologie orientiert, das im Gegensatz zum Darwinschen besagt, dass in Anpassung an die natürliche Umgebung erworbene Eigenschaften vererbbar seien, und die These aufgestellt, dass aus der Über­forderungen mit dem kapitalistischen Modernisierungsprozess (Industrialisierung, Urbanisierung usw.) entstandene psychische Defekte und pathologisches Verhalten wie Alkoholismus an die Nachkommen weitervererbt würden. So würden sich Degenerationserscheinungen durch die Kombination von Vererbung und sich ungünstig verändernder individueller Umgebung von Generation zu Generation akkumulieren und in der Bevölkerung ausbreiten. In dieser Perspektive hätten der liberalen Intelligencija psychische Krankheiten und soziale Probleme wie Alkoholismus als Symptome gesellschaftlicher Fehlentwicklungen gegolten und Kriminalität als deren Folge. Aus dieser Logik heraus wurden, wie Beer aus seinem reichen Quellenfundus heraus nachweisen kann, liberale Psychiater und Kriminologen zu Kritikern des zarischen Herrschaftssystems und Anhängern einer tiefgreifenden Sozialreform. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts breitete sich darüber hinaus die Vorstellung aus, dass pathologisches und kriminelles Verhalten sowie psychische Erkrankungen übertragbar seien. Im Lichte dieses aus der Bakteriologie entlehnten epidemiologischen Modells, das neue biomedizinische Erkenntnisse mit Theorien von der Psychologie der Masse kombinierte, galt es, Kranke und Kriminelle von der Gesellschaft abzusondern, um mentale Ansteckungen zu verhindern. Insbesondere unter dem Eindruck der Revolution von 1905, die mit ihren spontanen Gewaltausbrüchen der Masse die Liberalen verunsicherte und einen Graben zwischen der antiautokratischen Elite und dem Volk sichtbar machte, hätten die Liberalen die Durchführung von Sozialreformen zur Aufgabe des Staates und seiner (Straf-)Rechtspolitik erklärt. Angesichts der noch unterentwickelten Zivilgesellschaft, die ja eben erst durch die Reformen zu schaffen war, hätten sie in Kauf genommen, dass dabei individuelle Autonomierechte zeitweilig einzuschränken seien.

Die Orientierung am Täter statt an der Tat ist im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zu beobachten. Indem so der Täter teilweise von der Verantwortung für seine kriminelle Tat entlastet und diese der Gesellschaft aufgebürdet wurde, lässt sich diese Entwicklung zu Recht als Humanisierung des Strafrechts beschreiben. Nachdem aber die Bolschewiki 1917 an die Macht gekommen waren, wandte sich die Orientierung am Täter in Russland gegen diesen, denn mit der Revolution und der – nach bolschewistischer Auffassung erfolgreichen – Trans­formation der sozialen Verhältnisse zum Guten konnte nicht mehr eine schädliche Umgebung für die kriminellen Akte eines Individuums mitverantwortlich sein. Die Annahme, dass die in vorrevolutionärer Zeit erworbenen Eigenschaften vererbbar und ansteckend seien, machte die Angehörigen der nicht-proletarischen Klas­sen selbst dann zur Gefahr für die neue Ordnung, wenn sie sich äußerlich konform verhielten. Hinzu kam eine ganze Reihe neuer Formen von Devianz, da die Bolschewiki kapitalistisches Wirtschaftsverhalten kriminalisierten. Ne­ben den direkten ideologischen und personellen Kontinuitäten in Psychiatrie, Sozialpsychologie und Kriminologie nennt Beer in seinem vierten Kapitel zwei Gründe, die letztlich eine Radikalisierung bis hin zu Gulag und stalinistischem Terror möglich gemacht hätten. Zum einen habe die erfolgreiche Verbindung des marxistischen Klassenkampfschemas mit den liberalen Vererbungs- und Degenerationstheorien den Bolschewiki auch biologisch-sozialmedizinische Argumente zur Isolation ganzer Klassen von der Gesellschaft geliefert, zum anderen hätten die Jahre vom Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 bis zum Ende des Bürgerkrieges 1921 zu einer Entgrenzung der Gewalt geführt, die die bei den vorrevolutionären Liberalen noch verbliebenen Hemmungen gegen die Anwendung von staatlichen Zwangsmitteln zur Schaffung des „Neuen Menschen“ abgebaut habe.

Indem er eindrücklich nachweist, wie Experten in Russland vor und nach der Oktoberrevolution bei der Suche nach den Ursachen von Kriminalität Vererbung und Umwelteinflüsse ständig vermischten, stellt sich Beer explizit gegen Peter Holquist, der nationalsozialistische und sowjetische Repression scharf unterschieden und auf ein biologisch-rassistisches Paradigma der Unterscheidung von Bevölkerungsgruppen bzw. ein soziologisches Paradigma der Unterscheidung von Klassen zurückgeführt hatte (S. 200). Gleichzeitig betont Beer die gemeinsamen Züge und Kontinuitäten zwischen russischem Liberalismus und Bolschewismus, die als moderne Ideologien beide von demselben optimistischen Glauben an die Machbarkeit tiefgreifender sozialer Umwälzungen zur Überwindung der „Rückständigkeit“ Russlands ausgegangen seien. In dieser Zuspitzung werden seine Thesen vermutlich nicht unwidersprochen bleiben. Er leistet aber einen wichtigen Beitrag zu einer Debatte über die Schattenseiten der Moderne, deren Relevanz weit über die Geschichte Russlands hinausweist.

Stefan Wiederkehr, Berlin

Zitierweise: Stefan Wiederkehr über: Daniel Beer Renovating Russia. The Human Sciences and the Fate of Liberal Modernity, 1880–1930. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2008. IX. ISBN: 978-0-8014-4627-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 588–590: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wiederkehr_Beer_Renovating_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)