Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 339-340

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Agnieszka Zagańczyk-Neufeld: Die geglückte Revolution. Das Politische und der Umbruch in Polen 19761997. Paderborn: Schöningh, 2014. 454 S. ISBN: 978-3-506-76619-9.

Agnieszka Zagańczyk-Neufeld sucht von einer politologischen Warte aus die Prozesse zu erfassen, die in Polen zum Regime- und Systemwechsel von der kommunistischen Parteidiktatur zur demokratischen Staatsordnung geführt haben. Nach einer längeren Erörterung verschiedener Denkpositionen entscheidet sie sich für eine „Diskursanalyse“. Die Geschehnisse werden auf der Grundlage der publizistisch geltend gemachten Vorstellungen der beteiligten Akteure – das heißt der Eliten aufseiten des Regimes und der Opposition, wie immer wieder betont wird – betrachtet und untersucht. Dementsprechend kommen die Machtverhältnisse und Konstellationen, welche die verbal ausgetragenen Auseinandersetzungen konditionierten, nur so weit in den Blick, wie sie in den jeweiligen Stellungnahmen erwähnt werden. Faktisch geht es um eine Darstellung der innenpolitischen Entwicklungen anhand der von den Beteiligen abgegebenen öffentlichen Stellungnahmen – ein auch sonst schon angewandtes Verfahren, für das eigentlich weder längere theoretische Erörterungen noch der neu eingeführte Begriff „Diskursanalyse“ nötig gewesen wären. Die Autorin verknüpft damit freilich Schlussfolgerungen wie die, dass eine „Diskurshegemonie“ erworben oder verloren worden sei oder dass sich während des „Kriegszustandes“ ab Dezember 1981 eine „diskursive Gemeinsamkeit“ zwischen den Eliten der Reformer in der Partei und der Opposition entwickelt habe.

Die Geburtsstunde der Opposition gegen die kommunistischen Machthaber in Polen und damit des innenpolitischen Diskurses zwischen unterschiedlich denkenden Akteuren fiel in das Jahr 1976. Den Anstoß zu dieser Frontbildung gab, dass zahlreiche Arbeiter als Teilnehmer von Streiks für längere Zeit ins Gefängnis gesteckt wurden und dass aus der Mitte der Gesellschaft heraus ein [Bürger-]Komitee zu Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników, KOR) gegründet wurde, um die in Not geratenen Familien materiell zu unterstützen. Auf diese Weise entstand in Polen, was es in keinem anderen Land des sowjetischen Lagers gab: eine Verbindung zwischen systemkritischen Intellektuellen und unzufriedenen Arbeitern. Dies verlieh der Opposition – zusammen mit dem Rückhalt an der seit 1956 von Partei und Staat respektierten katholischen Kirche, der sich nach der Wahl von Kardinal Karol Wojtyła zum Papst 1978 noch verstärkte – eine sonst auf östlicher Seite unbekannte gesellschaftliche Stoßkraft. Zugleich zeigen die Ausführungen von Agnieszka Zagańczyk-Neufeld, dass schon 1976 in der polnischen Publizistik ein Ausmaß an Pluralität herrschte, das in anderen Ländern des sowjetischen Lagers undenkbar gewesen wäre.

Das Ergebnis der Betrachtungsweise von Agnieszka Zagańczyk-Neufeld ist eine umfängliche Ansammlung von publizistischen Stellungnahmen, die für Leser von Interesse sind, die schon die innenpolitischen Entwicklungen in Polen seit 1976 kennen und gerne noch viele Details dazu wissen möchten. Wer sich dagegen neu darüber informieren möchte, wird es schwer haben, einen Überblick zu gewinnen. Zudem bleibt – zumindest vor der Gorbatschow-Zeit – der für die politischen Verhältnisse in Polen entscheidende sowjetische Kontext außerhalb des Blickfeldes: In der Solidarność-Phase 1980/81 bleibt der von der UdSSR ständig ausgeübte Druck, unter anderem in Form einer wiederholt angedrohten militärischen Intervention (die aber nicht ernsthaft beabsichtigt war), unerwähnt, weil im öffentlichen Diskurs zwischen Partei und Opposition davon keine Rede war. Wieso Jaruzelski, der im Herbst 1981 zum Parteichef gekürt worden war, nachdem sein Vorgänger Kania keine Repression durchgeführt hatte, nach langem Zögern das Kriegsrecht proklamierte, bleibt daher unerfindlich. Wenn das Buch ab 1985 mehr über die Entwicklung der Beziehungen zu Moskau bringt, vor allem über das enge Einvernehmen zwischen Gorbatschow und Jaruzelski, dann ist das darauf zurückzuführen, dass dieser Gesichtspunkt von der damaligen Publizistik in Polen nicht mehr beschwiegen wurde.

Insgesamt sind die Ausführungen von Agnieszka Zagańczyk-Neufeld ein Gewinn für Leser, die sich auf der Grundlage einer soliden Kenntnis der Vorgänge und Zusammenhänge zusätzlich über Einzelheiten des Verlaufs der innenpolnischen Diskussion informieren möchten. Die Darstellung allein des Diskurses in Polen ermöglicht keine Antwort auf die im Buchtitel implizit gestellte Frage, wieso die Revolution gegen das kommunistische Regime glückte, denn auch in den anderen Ländern des sowjetischen Lagers, wo die Diskussion ganz anders oder auch überhaupt nicht geführt wurde, war die Revolution erfolgreich – und zwar überall außer in Rumänien ebenfalls auf friedliche Weise. Mithin beruhte das Gelingen auf anderen Faktoren als den Spezifika des polnischen Diskurses.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Agnieszka Zagańczyk-Neufeld: Die geglückte Revolution. Das Politische und der Umbruch in Polen 1976–1997. Paderborn: Schöningh, 2014. 454 S. ISBN: 978-3-506-76619-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Zaganczyk-Neufeld_Die_geglueckte_Revolution.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Gerhard Wettig. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.