Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 489-492

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. 304 S. = Synthesen. Probleme europäischer Geschichte, 5. ISBN: 978-3-525-36806-0.

Der Nationalstaat gilt als politische Errungenschaft der Moderne, weil ihm die Vorstellung zugrunde liegt, dass die Bevölkerung nicht einem den Staat verkörpernden Herrscher untertan ist, sondern eine auf eigenem Recht beruhende, den Staat konstituierende nationale Gemeinschaft bildet. Die Kehrseite dieses Konzepts ist, dass alle, die nicht zur Ethnie der jeweiligen Nation gehören, von vornherein als Fremdkörper angesehen werden, als außerhalb der nationalen Gemeinschaft stehend gelten und damit bestenfalls als zu ertragendes Element erscheinen. Damit istin den multiethnischen Regionen Osteuropas besonders ausgeprägteinMinderheitenproblem“ entstanden, das, wie Philipp Ther darlegt, erst vom Nationalstaat geschaffen wurde und damit eigentlich ein Nationalstaatsproblem ist. Früher hatten in den dynastischen Reichen ethnische Faktoren keine große Rolle gespielt. Parallelgesellschaften konnten friedlich nebeneinander existieren, weil feste Hierarchien das Leben nach ständischen Gesichtspunkten ordneten und soziale Verhältnisse den Alltag bestimmten, die den ethnischen Unterschieden keine Bedeutung gaben.

Die Logik des Nationalstaates führte dazu, dass die als ethnische Fremdkörper betrachteten Bevölkerungsteile unter Druck gerieten. Die Alternative, vor der diese grundsätzlich standen, lautete Anpassung durch Aufgabe ihrer ethnischen Identität oder Verlassen des Staatsgebiets. Diese Wahl bestand jedoch vielfach nur theoretisch. In der Praxis war die Lage zumeist komplizierter. Wenn es nicht um vereinzelte Individuen, sondern um kompakte Gruppen ging, die bestimmte Gebiete fast allein bewohnten, kam es kaum in Betracht, dass diese in ihrer Gesamtheit zur dominierenden Staatsnation konvertierten oder auswanderten. Wenn daher die Realität dem verinnerlichten Ideal der ethnischen Homogenität widersprach, erschien den Eliten der Staatsnation die Loyalität des betreffenden Bevölkerungsteils zweifelhaft und das von ihm besiedelte Gebiet als fremder, unzuverlässiger Außenposten.

Die daraus erwachsenden Spannung prägten die Situation in Osteuropa, denn dort war anders als im meist homogenen Westen des Kontinentsdie Bevölkerung weithin ethnisch durchmischt. Das war fatal, weil sich die Nationen als Staatskörper definierten, der nicht auf der subjektiven Zustimmung seiner Bürger, sondern dem objektiven Kriterium der ethnischen Einheitlichkeit und Übereinstimmung beruhte. Ethnische Unterschiede galten daher grundsätzlich als staatswidrigmit der Folge, dass die Herstellung einer ethnischen Homogenität notwendig erschien. Die Habsburgermonarchie scheiterte mit dem Versuch, sich gegen dieses Konzept zu wehren: Sie vermochte ihre multiethnische Existenz nicht durch Regelungen zu sichern, die den ethnisch-kulturellen vom politisch-staatlichen Bereich trennten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten die Nationalstaaten in Osteuropa ihre Verhaltensmuster heraus: Sie suchten die missliebigen Minderheiten durch Druck entweder zur Assimilation oder zur Abwanderung zu veranlassen. Dahinter stand das Ziel, das eigene Territorium durch ethnische Homogenisierung zu sichern. Zugleich verfolgten viele auch expansive Absichten, indem sie Ansprüche auf Gebiete jenseits der Grenzen erhoben, die von einer ko-ethnischen Bevölkerung bewohnt wurden.

In den Balkankriegen von 1912/13 praktizierte man erstmals Vertreibungenvorgeblich auf gegenseitiger Basis, faktisch aber schon damals mit einseitigen Akzenten. Den Betroffenen wurde nicht mehr erlaubt, zwischen Optionen zu wählen, um Einfluss auf ihr Schicksal zu nehmen: Man entfernte sie aufgrundobjektiver“, das heißt von staatlichen Bürokratien nach Kriterien der Sprache oder auch Abstammung fixierter Zuschreibung aus ihrer Heimat. Schon damals zeigte sich so wie später immer wieder, dass die Vertriebenen selbst dann, wenn sie keinen Ausschreitungen ausgesetzt waren und Zusagen bezüglich ihrer Existenz am neuen Lebensort erhalten hatten, einer erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Deklassierung unterlagen. Wie sie litten auch die Regionen, die sie verlassen mussten; diese wurden in manchen Fällen sogar zu permanenten Notstandsgebieten. Dennoch fand das Vorgehen international allgemeinen Beifall; vor allem bei den Briten galt es als vorbildliche Lösung ethnischer Probleme. Das war möglich, weil die maßgeblichen Politiker und Meinungsführer von den Verhältnissen vor Ort keine Notiz nahmen und es aufgrund ihrer nationalstaatlichen Denkweise für gut und richtig hielten, dass auf diese Weise der ärgerliche Bevölkerungsmixentzerrt‘ wurde und die staatliche Ordnung damit eine nach ihrer Ansicht sichere Grundlage erhielt. Bei den damaligen wie den späteren Vertreibungen handelte es sich in aller Regel nicht um die Befriedigung aufgestauter Ablehnungs- oder Hassgefühle, sondern um rational geplante und von oben her in Gang gesetzte Aktionen.

Die Überzeugung, dass eine nationalstaatlich bestimmte Ordnung prinzipiell keine Probleme schaffe, und die positiven Resultate, die mit demBevölkerungsaustausch“ angeblich erreicht worden waren, veranlassten die Sieger im Ersten Weltkrieg dazu, die multiethnischen Reiche bedenkenlos in Staaten aufzuspalten, die sich als Nationen gerierten, faktisch aber ihrerseits kleine multiethnische Reiche waren. 1923 befürworteten die Briten, als sie nach dem Krieg zwischen Griechenland und der Türkei den Frieden vermittelten,Umsiedlungen“ als eine vermeintlich für alle Seiten gute Regelung. Die vor allem für die Griechen langfristig fatalen Folgen erschütterten auch hinterher nicht die vorgefasste Meinung, dass die Methode heilsam sei. Das bestimmte daher die westliche Politik weitermit überaus unheilvollen Folgen vor allem in den Jahren von 1938 bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Das zeigte sich, als in den späten dreißiger Jahren die Brüchigkeit der 1919 von den Siegern in Osteuropa etablierten nationalstaatlichen Ordnung zutage trat, die sich aus der offenkundigen Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Staaten auf ethnische Homogenität und der Tatsache ihrer ethnischen Heterogenität ergab.

Hitler nutzte die Forderung nach national gerechten ethnischen Verhältnissen erfolgreich als Expansionsinstrument. Die britische Politik war ihm zu Anfang behilflich, weil sie von der Annahme ausging, er wolle den deutschen Nationalstaat vollenden, und zudem hoffte, durch die Bereitschaft zur Konfliktlösung die drohende Verwicklung in einen Krieg abzuwenden. Als Hitler aber durchZerschlagung der Resttschechei“ im März 1939 den imperialistischen Charakter seiner Ambitionen zu erkennen gab, änderte Großbritannien seinen Kurs radikal. Als er anschließend erneut mit nationaler Begründung Forderungen erhob, diesmal gegenüber Polen, fand er in London keinen Glauben. Der Weg in den Zweiten Weltkrieg war beschritten. In großem Umfang setzten gewaltsame Bevölkerungsverschiebungen ein. Hitler suchte im Osten dendeutschen Volksboden“ durch Vertreibung von Angehörigen anderer Völker, vor allem von Polen, und durchHeimholen“ der in Osteuropa verstreuten Deutschen massiv zu erweitern. Die Briten und andere Westmächte hielten daran fest, dass ethnische Separation heilsam und geeignet sei, dem Frieden künftig eine feste Grundlage zu geben. Vor diesem Hintergrund waren die Briten und Amerikaner prinzipiell damit einverstanden, dass Stalin das Verlangen nach territorialen Veränderungen mit dem Standpunkt verband, die Deutschen müssten aus den von ihnen abzutretenden Gebieten entfernt werden. Bedenken gab es nur bezüglich des Umfangs, wenn dadurch ein Destabilisierungsrisiko entstand. Von ihrer Zustimmung rückten sie erst in der frühen Nachkriegszeit ab (ohne sich freilich um eine Revision der inzwischen geschaffenen Verhältnisse zu bemühen), als UdSSR und Kommunismus zur entscheidenden Herausforderung wurden.

Philipp Thers Monographie besticht dadurch, dass nicht nur so gut wie alle relevanten (unter Einschluss der Vertreibungen 1947 in Indien und Pakistan und Anfang der neunziger Jahren im nachkommunistischen Jugoslawien), sondern auch die zumeist übersehenen bzw. ignorierten Vorgänge aufgeführt werden. Der Text ist ungewöhnlich klar und sowohl für Fachleute wie Laien verständlich formuliert, zudem sehr übersichtlich gegliedert. Hervorzuheben sind auch die überaus fein differenzierende Darstellung und die deutliche Abgrenzung des Phänomens der ethnischen Säuberung von anderen Formen der Gewalt gegenüber Bevölkerungsgruppen. Dieaußerordentlich selten vorkommendenIrrtümer und Defizite sind demgegenüber fast bedeutungslos. Als solche sind mir lediglich aufgefallen, dass die deutsche Heeresleitung im Ersten Weltkrieg als „Führung der Deutschen Reichswehr“ bezeichnet wird (was im Blick auf die 100.000-Mann-Truppe richtig wäre, die 1919 der Weimarer Republik von den Siegern zugebilligt wurde), dass Stalin die Übergabe der deutschen Ostgebiete an Polen nicht von Anfang an bis zur Lausitzer Neiße, sondern zunächst nur bis zur Glatzer Neiße beabsichtigte (so dass Niederschlesien weithin bei Deutschland geblieben wäre), und dass Beneš nur eine teilweise „Aussiedlung“ der deutschen Bewohner des Sudetenlandes gefordert habe. Wie ich in einer Untersuchung zeigen konnte, die Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2013  hielt sich Beneš nur gegenüber den Briten zurück, weil er bei diesen mit dem Verlangen nach Totalvertreibung auf Widerstand stieß. Deshalb wandte er sich an Stalin und lieferte ihm gegen die Lizenz, alle Deutschen entfernen zu dürfen, die Tschechoslowakei politisch aus.

Das Buch kann als das führende Werk über die Zusammenhänge zwischen dem Konzept des Nationalstaats und dem Phänomen der ethnischen Säuberungen geltenein Phänomen, das heute zwar in der europäischen Ursprungsregion wenig aktuell zu sein scheint, sich aber von dort auf viele andere Länder vor allem in Afrika verbreitet hat.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Philipp Ther: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. 304 S. = Synthesen. Probleme europäischer Geschichte, 5. ISBN: 978-3-525-36806-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Ther_Die_dunkle_Seiten_der_Nationalstaaten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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