Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 322-325

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Oleg R. Ajrapetov: Učastie Rossijskoj imperii v Pervoj mirovoj vojne (1914–1917). Moskva: Kučkovo pole, 2015.

T. 1: 1914 god. Načalo. 639 S. ISBN: 978-5-9950-0402-8;

T. 2: 1915 god. Apogej. 622 S. ISBN: 978-5-9950-0420-2;

T. 3: 1916 god. Sverchnaprjaženie. 383 S. ISBN: 978-5-9950-0479-0;

T. 4: 1917 god. Raspad. 415 S. ISBN: 978-5-9950-0480-6.

Das Russische Reich ging – anders als die Verbündeten im Westen – in den Krieg ohne ein Ziel, das diesen in den Augen der breiten Massen gerechtfertigt hätte. Die erstrebte Herrschaft über die Ausgänge des Schwarzen Meeres interessierte nur die schmale adlig-bürgerliche Schicht. Der großen Mehrheit, den meist mit viel zu wenig Bodenbesitz ausgestatteten Bauern und den erst unlängst in die Industriezentren gekommenen Proletariern, war das völlig egal und auch jeder Patriotismus fremd. Die Bauern wollten mehr Land haben, während sich die Arbeiter um höhere Löhne bemühten. Wenn sie dabei zu Streiks griffen, antwortete die Staatsgewalt nicht selten mit Repression, die sich dann negativ auf die Loyalität auswirkte. Für den größten Teil der Bevölkerung gab es keine verteidigenswerte Ordnung. Daher einte die Soldaten und ihre Offiziere kein gemeinsames Grundgefühl, was auch darin zum Ausdruck kam, dass die ungebildeten, weithin analphabetischen Massen den Vorgesetzten als „dunkle Menschen“ (tëmnye ljudi) galten. Russland war zudem politisch gespalten. Das in der Duma, in den Zemstvo-Organen und seit Kriegsbeginn auch im Städte-Verband maßgebende Bürgertum sagte zwar dem autokratischen Regime volle Unterstützung im Krieg zu, stand aber zu ihm aufgrund zumeist liberaler Ansichten prinzipiell in Opposition. Die fraglose Gefolgschaft, welche die dörflichen Massen dem Zaren zunächst noch leisteten, galt daher als Ärgernis, das die erforderliche Kritik verhindere.

Diese Probleme waren dem Kaiser, seinen Ministern und Militärs nicht bewusst, als sie über den Kriegseintritt berieten. Sie erwarteten zwar große Schwierigkeiten, sahen diese aber nur im organisatorischen Bereich. Ihre Präferenz für die Aufrechterhaltung des Friedens wurde konterkariert durch die Sorge, dass fehlendes Eintreten für den serbischen Schützling ihren Großmachtstatus beschädigen würde. In der Hoffnung, dass kein bewaffneter Konflikt daraus entstehen werde, griffen sie zu Warnungen und anderen Maßnahmen, die schließlich zum Krieg führten. Das war umso fataler, als das Russische Reich in vielen Bereichen keine klare Planungen hatte, wie man vorgehen wollte. Viele Dispositionen wurden eilig verändert oder überhaupt erst getroffen, die Kommandobefugnisse zwischen den politischen und militärischen Institutionen waren weder sinnvoll noch eindeutig abgegrenzt, die Armeebefehlshaber wurden ad hoc aus dem ganzen Land herbeigeholt und kannten weder ihre Offiziere noch ihre Truppen. Diese hatten die künftige Kampfsituation weithin nicht eingeübt und waren daher oft nur in Uniform gesteckte mužiki, deren militärisches Potenzial größtenteils ungenutzt blieb. Zudem trug der russische Aufmarsch Züge der Übereiltheit aufgrund dringender Appelle aus Paris, die Offensive gegen Deutschland rasch einzuleiten, um die französische Armee von Druck zu entlasten.

Russland konnte den Krieg nur dann unbeschadet überstehen, wenn er rasch siegreich beendet wurde. Daher sollte Deutschland sofort dadurch in die Knie gezwungen werden, dass Angriffe gegen Ostpreußen und Posen, unterstützt durch einen Vorstoß über Breslau zu den Sudeten und eine Abriegelung des kriegswichtigen oberschlesischen Industriegebiets, zur Eroberung von Berlin führen würden. Österreich-Ungarn sollte durch den Zusammenbruch seiner Front in Ostgalizien ausgeschaltet werden. Dann würden die – vor allem im ungarischen Reichsteil unterdrückten – slawischen Völker der multinationalen Doppelmonarchie die Loyalität aufkündigen und sich Russland als slawischer Führungsmacht zuwenden. Sogar die Polen, die früher wiederholt gegen die russische Herrschaft revoltiert hatten, sollten mitmachen, um Posen von den Deutschen zu befreien. Die Hoffnung auf Sieg über die beiden Mittelmächte erfüllte sich nicht. Es gelang den Armeen des Zaren zwar, tief in das nur mit schwachen Kräften verteidigte Ostpreußen vorzudringen und die österreichisch-ungarische Front in Galizien zu erschüttern, aber damit erreichten sie nur, dass Deutschland im entscheidenden Augenblick seiner gegen Paris gerichteten Offensive Truppen von dort nach Osten abziehen musste. Das trug erheblich zum Scheitern des Versuchs bei, Frankreich als Gegner im Westen auszuschalten, doch gewann Russland dadurch wenig. Die von der Obersten Heeresleitung (OHL) eilig dorthin geworfenen Verstärkungen bereiteten ihm im Winter 1914/15 eine Serie von Niederlagen, zuerst in Ostpreußen und dann auch in Galizien. In den folgenden zwei Jahren sahen sich die russischen Streitkräfte sogar zur Aufgabe weiter Teile des eigenen Territoriums gezwungen – ein Debakel, das nicht nur für die Truppen den Sinn des Krieges fragwürdig machte, sondern auch die politischen Probleme im Innern fortlaufend verschärfte.

Als im Jahr 1915 der große Rückzug an der deutsch-österreichischen Front begann, die vor allem von den Briten getragene Operation zur Eroberung der Meerengen scheiterte und die Verbündeten auf dem Balkan von den Mittelmächten besiegt wurden, konnten die russischen Truppen immerhin gegen die Türkei Erfolge verzeichnen und ein Abgleiten Persiens ins Feindeslager verhindern. Die jungtürkischen Nationalisten in Konstantinopel schoben die Misserfolge dem christlichen Bevölkerungsteil in die Schuhe und sahen zusammen mit kurdischen Akteuren die Gelegenheit gekommen, diesen als Fremdkörper zu beseitigen. Die russischen Verbände suchten die besonders bedrohten Armenier vor dem Genozid zu schützen, waren dazu aber wegen fehlender Kräfte nur in sehr eingeschränktem Umfang imstande. Währenddessen wurde die Türkei von Süden her von einem britischen Expeditionskorps und aufständischen Arabern bedrängt, doch änderte dieses zunächst noch weit entfernte Kriegsgeschehen die Lage an der transkaukasischen Front nicht. Diese hatte ohnehin für das Regime in Petrograd (wie die auptstaHauptstadt im Zuge der landesweiten antideutschen Kampagne umbenannt worden war) nur die Bedeutung eines Nebenschauplatzes.

Die Brusilov-Offensive an der Südwestfront im Juni 1916 führte zwar zunächst an einigen Stellen zu kleinen Erfolgen, die freilich die enormen Anstrengungen und Opfer nicht wert waren, denn sie blieb stecken und enttäuschte die Hoffnung auf eine Wende gegenüber den Mittelmächten. Die mithin weiter bedrängte militärische Lage hatte innenpolitische Folgen. Die liberale Opposition in der Duma, die über die Presse viel Gehör im Land fand und vor allem über die nachrückenden jüngeren Offiziere in der Armee wachsenden Einfluss gewann, blies im November zum offenen Angriff gegen das autoritäre Zarenregime. Worauf sei die entstandene Lage denn zurückzuführen: auf „Dummheit oder Verrat“? Die Rede Miljukovs, ihres Führers, die direkt zur Revolution aufforderte, wurde zwar von der Zensur verboten, aber unter der Hand in Abschriften verbreitet. Auch in den darin als „reaktionär“ bezeichneten Kreisen und in der Generalität gärte es. Der Verdacht richtete sich besonders gegen die – aus einem deutschen Fürstenhaus stammende – Kaiserin, als deren böser Geist der von ihr als Heiliger betrachtete Rasputin galt. Seine Ermordung durch Täter aus dem Hochadel im Dezember 1917 sollte nach deren Absicht die Monarchie retten.

Das änderte aber weder die allgemeine Lage noch das Misstrauen gegenüber der Kaiserin. Die überall herrschende Desorganisation bestärkte die Duma-Politiker in der Überzeugung, dass das Regime den Sieg verhindere. Wenn jedoch sie als Vertreter des Volkes die Herrschaft übernähmen, würden sich alle Probleme lösen. Außer den westlichen Alliierten neigten auch die führenden Militärs zunehmend der Ansicht zu, dass ein Regimewechsel nötig sei. Der Umsturz ging von woanders aus. Die Truppen in der Etappe, insbesondere in Petrograd, waren unzufrieden und entglitten der Kontrolle ihrer Offiziere, die dazu wegen ihrer geringen Zahl außerstande waren. Die zunächst spontan-unorganisierten Unruhen entwickelten sich zum Aufstand. Die Duma, die sich auf die Rebellen als vermeintliche politische Verbündete stützte, bildete eine Regierung, und einige ihrer Mitglieder waren am Entstehen eines „Rats“ (sovet) beteiligt, der als Anleitungsorgan für die Soldaten- und Arbeitermassen gedacht war, aber so wie die vielen anderen im Land entstehenden sovety rasch zur Gegeninstitution wurde. Das Parlament versicherte der Stavka, dem Oberkommando der Armee, sie gewährleiste als revolutionäre Vertretung des Volkes die Ordnung in den Streitkräften und die Fortsetzung des Krieges bis zum siegreichen Ende. Im Blick darauf nötigte die Stavka den Kaiser zur Abdankung. Damit wurde das Gegenteil erreicht: Die Bindung an den Zaren, welche die Soldaten zumindest an der Front bis dahin noch motiviert hatte, fiel ersatzlos weg.

Die Duma-Regierung suchte auf alle mögliche Weise die Ordnung in der Armee revolutionär zu verändern. Insbesondere ging es ihr um die Beseitigung der militärischen Disziplin, die sie als Unterdrückungsinstrument des autokratischen Regimes ansah, und ihre Ersetzung durch einen idealistischen Kampfeswillen, der durch politische Überzeugungsarbeit entstehen sollte. Den von Petrograd und anderen Aufruhrzentren ausschwärmenden Agitatoren durften ebenso wenig wie den die Soldaten- und Arbeitermacht verkörpernden, von sozialistischen Gruppen beherrschten Sowjets in den Einheiten Hindernisse in den Weg gelegt werden. Vorgesetzte aller Ränge, welche die Disziplin aufrechtzuerhalten suchten, wurden in großer Zahl durch duldsameres, oft auch gänzlich unerfahrenes Leitungspersonal ersetzt. Die Folge war eine fortschreitende Demoralisierung der Armee. Die Verantwortlichen in der Hauptstadt waren anderer Ansicht und sahen sich dadurch bestätigt, dass ihre Appelle zu „revolutionärer Verteidigungsbereitschaft“ in der Truppe stets Begeisterung auslösten. Das beruhte jedoch darauf, dass sich die Soldaten vom Enthusiasmus der Redner emotional mitnehmen ließen, ohne an Konsequenzen für ihr eigenes Verhalten zu denken. Es handelte sich daher faktisch um ein folgenloses, sofort verlöschendes Strohfeuer. Disziplin und Kampfbereitschaft schwanden. Zunehmende Desertionen und eine Welle der Verbrüderung mit feindlichen Truppen (die unter Führung ihrer Offiziere in die russischen Schützengräben kamen) zeigten, dass es den Soldaten vor allem darum ging, den als „Zwangsarbeit“ (katorga) empfundenen Kriegsdienst loszuwerden.

Im Laufe des Frühjahrs trat der rechtsbürgerliche Kriegsminister Gučkov zurück, als ihm bewusst wurde, dass die von ihm mit vorangetriebene Politik zur Auflösung der Armee führte. Sein Ressort übernahm der Sozialist Kerenskij, der sich als Marat der russischen Revolution sah, der aber – anders als sein französisches Vorbild – seine Aufgabe ohne Zwang und Gewalt erfüllen werde. Er sorgte dafür, dass der bisherige Oberkommandierende General Alekseev gehen musste, der im Rahmen des Möglichen auf Ordnung bestanden hatte, und durch den Karrieristen Brusilov ersetzt wurde, der sich in Allem nach den Wünschen des neuen Ministers richtete. Die Krise verschärfte sich: Die offenen Befehlsverweigerungen nahmen zu, die Gewalt gegenüber Vorgesetzten stieg an. Nachdem die Boľševiki schon zu Beginn der Revolution die Herrschaft über Kronstadt und die Baltische Flotte übernommen hatten, halfen Emissäre von dort im Juni die Disziplin auch auf den Schiffen im Schwarzen Meer zu beseitigen, die durch Admiral Kolčaks kluge Führung noch aufrechterhalten worden war. Vor dem Hintergrund sich ausbreitender Auflösungserscheinungen befahl Kerenskij im Juli eine Großoffensive an der Front im Westen. Diese endete in einer Katastrophe.

Die Ankunft Lenins im April hatte zu einem grundlegender Wandel der Lage im Innern geführt. Da seine Rückkehr aus dem Schweizer Exil von der deutschen OHL ermöglicht worden war, wollten ihn die bürgerlichen Politiker als Verräter verhaften, wurden daran aber von den sozialistischen Gruppen gehindert, die ihn als einen der ihren betrachteten. Nachdem die Boľševiki bis dahin zwar systematisch um Einflussnahme auf die Armee bemüht, dazu aber nur in geringem Umfang in der Lage gewesen waren, entfaltete jetzt ihre Agitation große Wirkung. Sie wandten sich kompromisslos gegen den bis dahin bestehenden Konsens, den Krieg an der Seite der Westmächte fortzusetzen und die Demokratie durch allgemeine freie Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung voranzutreiben. Die Anhänger Lenins wollten den Staatenkrieg in einen Bürgerkrieg transformieren, um so die Alleinherrschaft ihrer Partei durchzusetzen. Ihre populistischen Forderungen nach Kriegsende und Landverteilung stießen bei den Soldaten zumeist auf lebhafte Zustimmung, was die politischen Konkurrenten zunehmend in Bedrängnis brachte.

Die anlaufende Offensive an der Front sorgte bei denjenigen Einheiten in der Hauptstadt, die unter dem Einfluss der Boľševiki gegen den Krieg opponierten, für Empörung. Die Parteiführung hatte sie zwar auf einen künftigen Aufstand hin ausgerichtet, hielt diesen aber für verfrüht. Ihr Versuch, sie zurückzuhalten, scheiterte. Die demokratischen Sozialisten, die unmittelbar bedroht waren, wurden von der übrigen Garnison unterstützt, und der ebenso fähige wie entschlossene neue neue Oberkommandierende, General Kornilov, stellte die Ordnung her. Zum raschen Zusammenbruch der Rebellion trug bei, dass sich die Soldaten scharf gegen die Boľševiki wandten, als deren Finanzierung durch die deutsche Seite ruchbar wurde. Damit eröffnete sich die Aussicht auf eine Stabilisierung des neuen Regimes. Als Kornilov nach der Aufgabe Rigas durch Verbände, die nicht zu kämpfen bereit waren, umfassende Vollmachten zur Durchsetzung der militärischen Disziplin verlangte, benutzte Kerenskij, jetzt an der Spitze der Regierung, die Gelegenheit, um den, wie er meinte, bei Truppe und Bevölkerung allzu populären und übermäßig machtbewussten General durch Mobilisierung der Linkskräfte zu stürzen. Die Folge waren allgemeine Auflösung und totales Machtvakuum.

Ajrapetovs sehr detaillierte, genaue und zuverlässige Ausführungen beruhen auf einer breiten Kenntnis der Akten nicht nur Russlands, sondern auch anderer kriegführender Staaten und auf zahlreichen Memoiren beteiligter Personen sowie auf damaligen Zeitungen und Publikationen. Dem Leser werden die Entscheidungen, Haltungen und Wahrnehmungen der politischen und militärischen Akteure eindringlich vor Augen geführt. Das vorliegende Werk ergänzt als Darstellung der Vorgänge auf russischer Seite hervorragend das von westlichen Historikern gezeichnete Bild des Ersten Weltkriegs und zeigt, wie die Lage entstand, die den Anhängern Lenins – anfänglich nur eine kleine Splittergruppe – den Griff nach der Alleinherrschaft ermöglichte.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Oleg R. Ajrapetov: Učastie Rossijskoj imperii v Pervoj mirovoj vojne (1914–1917). Moskva: Kučkovo pole, 2015. T. 1: 1914 god. Načalo. 639 S. ISBN: 978-5-9950-0402-8; T. 2: 1915 god. Apogej. 622 S. ISBN: 978-5-9950-0420-2; T. 3: 1916 god. Sverchnaprjaženie. 383 S. ISBN: 978-5-9950-0479-0; T. 4: 1917 god. Raspad. 415 S. ISBN: 978-5-9950-0480-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_SR_Ajrapetov_Russland_im_Ersten_Weltkrieg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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