Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 169-171

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Hrsg. von Horst Möller / Ilse Dorothee Pautsch / Gregor Schöllgen / Hermann Wentker / Andreas Wirsching. Bearbeitet von Heike Amos / Tim Geiger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 834 S., 63 Abb. ISBN: 978-3-525-30076-3.

Der Band komplettiert die großen Sammlungen deutscher und sowjetischer Dokumente zu den internationalen Erörterungen und Verhandlungen über die Vereinigung Deutschlands (Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters / Daniel Hofmann. München 1998; And­reas Hilger (Hrsg.): Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90. München 2011; Alek­sandr Galkin / Anatolij Tschernjajew (Hrsg.): Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991. München 2011) vor allem dadurch, dass er den Akten der Bundesrepublik solche der DDR hinzufügt. Außer den beiderseitigen Überlegungen und Entwürfen enthält der Band insbesondere Protokolle der Gespräche mit den Mitgliedsländern (einschließlich der Führungsmächte) sowohl der NATO als auch des Warschauer Pakts. Den 170 ausgewählten Dokumenten ist eine ausführliche, von den Bearbeitern Heike Amos und Tim Geiger verfasste Einleitung vorangestellt. Diese listet zuerst alle einschlägigen Archivalienpublikationen auf und stellt anschließend die politischen Entwicklungen detailliert dar, welche die – zuvor noch undenkbare – Vereinigung der beiden zu gegensätzlichen Bündnissen und Systemen gehörenden deutschen Staaten ermöglicht und bewerkstelligt haben. Wer sich als noch Uninformierter darüber unterrichten will, wird dort alles Wichtige und Notwendige finden. Auch Kenner der Zusammenhänge werden die Einleitung mit Gewinn lesen.

Der Dokumententeil beginnt mit Unterlagen über die Vorgänge vom Sommer und Herbst 1989 im Zusammenhang mit den ostdeutschen Flüchtlingen zuerst in Ungarn und dann in Prag. Diese lassen klar erkennen, wie die zur Vereinigung Deutschlands führenden Prozesse von da aus in Gang kamen. Während der anschließenden Entwicklungen zeigten sich die unterschiedlichen Haltungen der internationalen Akteure auf dem Weg zur deutschen Einheit, vor allem beim Fall der Berliner Mauer, bei Kohls Zehn-Punkte-Plan zur Überwindung der Teilung und bei den Beratungen über den Rahmen der Deutschland-Verhandlungen, die zum Zwei-plus-Vier-Konzept führten. Stets war die Unterstützung der Vereinigungspolitik Bonns durch George H. W. Bush von entscheidender Bedeutung. Sie bestimmte die Reaktionen nicht nur Gorbatschows, sondern auch der Verbündeten im Westen, wo sich François Mitterrand und Margret Thatcher gegenüber der deutschen Einheit zunächst skeptisch bis ablehnend verhielten. Der amerikanische Präsident setzte sich deswegen für die deutsche Sache ein, weil die Bundesregierung 1983 unter größten Schwierigkeiten unerschütterlich am NATO-Doppelbeschluss festgehalten und die Stationierung der Gegenraketen zur sowjetischen SS 20 durchgeführt hatte. Auch 1989/90 war er sich sicher, dass die Bundesrepublik nach der Vereinigung weiter in der atlantischen Allianz bleiben werde, weil ihre Führung dafür eintrat und ein Tauschgeschäft mit der UdSSR Neutralität gegen Einheit von vornherein ausschloss. Auf dieser Grundlage wollten die USA und schließlich auch alle westlichen Verbündeten die deutsche Einheit.

Angesichts dieser Konstellation sah sich Gorbatschow dazu veranlasst, seinen Widerstand zuerst gegen die Vereinigung und dann auch gegen die gesamtdeutsche NATO-Mitgliedschaft aufzugeben, denn die Zustimmung, die in dieser Frage sowohl von Honeckers Nachfolgern an der Spitze von Partei und Staat als auch von vielen Akteuren der „friedlichen Revolution“ gekommen war, hatte ihm wenig geholfen. Die DDR befand sich in einer wirtschaftlich katastrophalen Lage und stand – was einem politischen Todesurteil gleichkam – vor einer 30 %-igen Senkung des Lebensstandards, wovor sie nur westdeutsche Hilfe retten konnte. Die Position der Bundesrepublik wurde weiter dadurch gestärkt, dass auch die UdSSR materielle Unterstützung aus Bonn benötigte. Auf allen Seiten war man sich darüber einig, dass sich die Vereinigung nur auf die beiden deutschen Staaten einschließlich Berlins erstrecken könne. Folglich musste die Oder-Neiße-Linie als endgültige Ostgrenze anerkannt werden. Das wusste auch Kohl, hielt sich aber zunächst mit entsprechenden Zusicherungen zurück, um die Vertriebenen nicht als Wähler der CDU/CSU zu verlieren. Er wollte ihnen demonstrieren, dass ohne den vertraglichen Verzicht auf die früheren Ostgebiete die Vereinigung nicht zu haben war. Dieses Motiv wurde im Ausland nicht immer verstanden, so dass es zeitweilig zu Irritationen kam.

Im Westen war man stets davon ausgegangen, das Zustandekommen eines gesamtdeutschen Staates müsse sich mit dem Abschluss eines Friedensvertrages verbinden, der die aus dem bei Kriegsende errichteten Besatzungsregime herrührenden Rechte der Vier Mächte aufheben und damit den Deutschen die politische Selbständigkeit voll wiederherstellen sollte. Das damit verbundene Gegeneinander von Siegern und Besiegten wäre jedoch 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein Anachronismus gewesen. Es wurden gleichberechtigte Verhandlungen mit dem Kernpunkt der Ablösung der Vier-Mächte-Rechte vorgesehen, bei denen die beiden deutschen Staaten sogar an die erste Stelle rückten. Bei den Detailberatungen gab es Schwierigkeiten wegen Forderungen der UdSSR. Diese wollte etwa auf der Sitzung am 2. Mai angesichts der rasch voranschreitenden innerdeutschen Vereinigung gewährleisten, dass die auswärtigen Bedingungen in aller Ruhe besprochen und formuliert werden könnten, und schlug deshalb eine fünfjährige Übergangsphase vor, während derer die Vier Mächte ihre Rechte behalten sollten. Sie verlangte auch eine massive Reduzierung der deutschen Streitkräfte. In dieser Frage kam die Bundesregierung der sowjetischen Seite entgegen, als diese der deutschen NATO-Mitgliedschaft zustimmte. Der Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages erfolgte am 12. September. Mit seinem Inkrafttreten am 3. Oktober wurde die Vereinigung vollzogen. Eine Woche später wurde der Abzug der sowjetischen Truppen bis 1994 festgelegt, wobei die Bundesrepublik einen hohen Betrag für den Bau von Wohnungen für die nach Hause zurückkehrenden Offiziersfamilien zusagte.

Insgesamt bietet der Band ein gut ausgewähltes Sortiment der bisher noch nicht publizierten Akten aus dem Bonner Auswärtigen Amt und der hier erstmals veröffentlichten Archivalien aus dem Ost-Berliner Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Ausführliche Erläuterungen in den Fußnoten stellen klar, auf welche – vielfach internen – Vorgänge in den Dokumenten Bezug genommen wird. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis, eine Liste der verwendeten Abkürzungen sowie, jeweils mit den wichtigsten Angaben versehen, ein Personen- und Sachregister sorgen dafür, dass sich auch der mit den Zusammenhängen noch wenig vertraute Leser leicht zurechtfindet.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Die Einheit. Das Auswärtige Amt, das DDR-Außenministerium und der Zwei-plus-Vier-Prozess. Hrsg. von Horst Möller / Ilse Dorothee Pautsch / Gregor Schöllgen / Hermann Wentker / Andreas Wirsching. Bearbeitet von Heike Amos / Tim Geiger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 834 S., 63 Abb. ISBN: 978-3-525-30076-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Moeller_Die_Einheit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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