Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 330-332

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Der Kreml und die Wende 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Sonderband 15. Hrsg. von Stefan Karner / Mark Kramer / Peter Ruggenthaler. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 2014. 712 S. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. ISBN: 978-3-7065-5413-8.

Die Wende des Jahres 1989 in Osteuropa, die das Ende des Kalten Krieges herbeiführte, war das Ergebnis sehr unterschiedlicher und überaus vielschichtiger Vorgänge; viele Akteure in Ost und West waren daran beteiligt. Zahlreiche Monographien sind inzwischen erschienen, die auf östlichen wie westlichen Dokumenten – aus polnischen, tschechischen, ungarischen, bulgarischen, amerikanischen, britischen, französischen und nicht zuletzt auch ost- wie westdeutschen Archiven – beruhen. Zur Politik der Kremlführung, der bei der Auflösung des äußeren sowjetischen Imperiums (die 1989 in ihre entscheidende Phase trat) natürlich zentrale Bedeutung zukommt, lagen bisher fast ausschließlich Materialien aus der Gorbačev-Stiftung vor, deren Bestände auch einigen besonders wichtigen monographischen Arbeiten, vor allem von Mark Kramer, zugrunde liegen. Die Lücke hinsichtlich der Publikationen aus staatlichen Moskauer Archiven wird geschlossen von dem hier besprochenen Band mit Dokumenten aus dem Russischen Staatsarchiv für Neueste Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii, RGANI). Aus diesen Dokumenten geht zum einen hervor, wie in Moskau Gorbačev, seine Mitarbeiter und der ZK-Apparat dachten und handelten, und zum anderen machen die Berichte der sowjetischen Botschaften in den anderen Hauptstädten deutlich, wie sich Politik und Geschehen dort entwickelten. Auf diese Weise bietet die – gut ausgewählte – Dokumentensammlung ein umfassendes Bild der Interaktionen, welche die internationalen Verhältnisse bis Ende des Jahres total veränderten gegenüber der Situation, die zu dessen Beginn bestanden hatte.

Der Auftakt dazu war der Anfang 1989 gefasste Beschluss der sowjetischen Führung, im äußeren Imperium auch nicht-sozialistische Entwicklungen zuzulassen. Dem lag außer dem – durch die immer schwierigere Lage in der UdSSR verstärkten – Interesse Gorbačevs an der Zusammenarbeit mit dem Westen das innenpolitische Bedürfnis zugrunde, angesichts der Herausforderung durch die Hardliner im Parteiapparat der KPdSU eine Abwehrfront aller Reformer im sowjetischen Lager zu bilden und deswegen auch die Kräfte zu akzeptieren, die mehr wollten als nur einen verbesserten Sozialismus. Das galt umso mehr, als die Männer im Kreml der Ansicht waren, dass die alten Verhältnisse in den „Bruderstaaten“ wegen der offen zutage tretenden politischen und wirtschaftlichen Krise kaum noch aufrechtzuerhalten seien, dass die Sowjetunion keine materielle Hilfe leisten könne und dass daher jedes Land selbst sehen müsse, wie es sich selbst helfe. Weil sie sich zur Übernahme der ‚Kosten des Imperiums‘ außerstande sahen, konnten sie auch nicht mehr bestimmen, was die anderen zu tun und zu lassen hatten. Zwar vermochten die sowjetischen Truppen ein erwünschtes Regime gewaltsam durchzusetzen, aber dem Kreml fehlten die materiellen Mittel, es danach an der Macht zu halten. Ebenso erging es den einheimischen Regimen, wenn sie unter akuten innenpolitischen Druck gerieten. Die Lähmung, die etwa die SED im Herbst 1989 angesichts des wachsenden Protests auf den Straßen der DDR befiel, ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass maßgebliche Spitzenfunktionäre nicht wussten, was zu tun wäre, wenn sie den Protest in Strömen von Blut erstickt haben würden. Trotzdem stand es nicht von vornherein fest, dass sich die alten Machthaber dieser Logik unterwerfen würden. Der Verzicht auf den Einsatz der vorhandenen Gewaltinstrumente ist daher im Rückblick als glückliche Fügung anzusehen.

Vor diesem Hintergrund sah sich Gorbačev während des Jahres 1989 dazu veranlasst, in Ostmitteleuropa die Kräfte der politischen Veränderung zu ermutigen und zu unterstützen, die immer klarer auf Abschaffung des Sozialismus und Übergang zur Demokratie hinwirkten. In Ungarn stellte er sich auf die Seite der Reformer an der Parteispitze, die mit dem Bekenntnis zur Revolution von 1956 und zum Mehrparteiensystem die Wende einleiteten und durch die Öffnung der Grenze dem SED-Regime in der DDR einen schweren Schlag versetzten. In Polen drängte er Parteichef Jaruzelski zu Verhandlungen mit der Solidarność-Opposition. Das Ergebnis waren teilfreie Wahlen, die für die Partei zum völligen Desaster wurden und sie, wieder mit Druck aus Moskau, zur Bildung einer nicht-kommunistisch geführten Regierung nötigten. Gorbaěvs deutliche Ablehnung gegenüber der Honecker-Führung und seine klare Weigerung, einem Gewaltgebrauch gegen die protestierende Bevölkerung zuzustimmen, trugen wesentlich, mutmaßlich sogar entscheidend zum Ende der SED-Herrschaft bei. Das zog in der Tschechoslowakei, die als einziges Land im Osten nicht unter wirtschaftlichem Druck stand, Entwicklungen nach sich, die in kurzer Zeit zum Ende der Parteidiktatur führten. Auch in Bulgarien konnte sich das Regime nicht halten. Nur in Rumänien kam es zu blutiger Gegenwehr des Parteichefs, der damit aber seine Niederlage (und anschließende Hinrichtung) nicht abwenden konnte. Hatten die alten Regime Anfang 1989 noch überall im äußeren Imperium das Sagen gehabt, so waren sie – vielfach mit Gorbačevs Unterstützung – am Jahresende allesamt von der politischen Bühne verschwunden.

Die politischen Vorgänge im sowjetischen Imperium wurden in den westlichen Hauptstädten mit Sympathie verfolgt, führten aber nicht zum Bemühen um Einflussnahme, wenn man davon absieht, dass der Regierung in Bonn das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig war, die aus der DDR nach Ungarn und später nach Prag strömten, um von dort in die Bundesrepublik zu gelangen (der die Aufnahme einige Probleme bereitete). Erst nachdem die entscheidenden Entwicklungen sich schon vollzogen hatten, begann man im Wesen aktiv zu werden. Einige Wochen nach dem – am 9. November unerwartet eingetretenen – Fall der Berliner Mauer setzte der Bundeskanzler die deutsche Frage vorsichtig auf die Tagesordnung, indem er einen allmählichen Prozess der Annäherung und Verbindung zwischen beiden Staaten mit späterer Vereinigungsperspektive ins Auge fasste. Am 3. Dezember fanden die Führungspersönlichkeiten von Ost und West, Gorbačev und US-Präsident Bush, während eines Treffens bei Malta zueinander und wurden sich darüber einig, dass der Kalte Krieg von da an Vergangenheit sein solle.

Alle diese Entwicklungen und Geschehnisse sind nicht nur den 99 sowjetischen Dokumenten des Bandes zu entnehmen. Sie sind auch Gegenstand einer von den vier Hauptherausgebern verfassten Einleitung, die sich mit dem Verhältnis der Sowjetunion zu den Ländern ihres Lagers im Jahr 1989 befasst. Es handelt sich um einen knappen, aber die vielfältigen relevanten Vorgänge vollständig darstellenden Text, der auf das Wesentliche konzentriert ist und dadurch eine hervorragende Zusammenfassung bietet. Sowohl der Leser, dem das Thema schon vertraut ist, als auch derjenige, der eine Erstinformation sucht, findet eine gute – zugleich durch die Art der Darbietung interessant gestaltete – Information. Der Dokumentenband kann daher rundum zur Lektüre empfohlen werden.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Der Kreml und die Wende 1989. Interne Analysen der sowjetischen Führung zum Fall der kommunistischen Regime. Sonderband 15. Hrsg. von Stefan Karner / Mark Kramer / Peter Ruggenthaler. Innsbruck, Wien, Bozen: StudienVerlag, 2014. 712 S. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. ISBN: 978-3-7065-5413-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Karner_Der_Kreml_und_die_Wende.html (Datum des Seitenbesuchs)

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