Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 480-481

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Wolfgang Geierhos: Der große Umbau. Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2016. 425 S. = Dresd­ner Historische Studien, 12. ISBN: 978-3-412-50385-7.

Wolfgang Geierhos legt dar, dass das demokratische Erbe, das 1917/18 der Machtergreifung Lenins zum Opfer fiel, nie – selbst in finsterster Stalin-Zeit – ganz vernichtet gewesen sei, sondern stets noch irgendwo überlebt habe. Gorbačëvs Perestrojka von 1985–1991, der „Große Umbau“, ist demnach der Durchbruch einer nur zeitweilig unterdrückten Entwicklung, die nach den seitherigen Rückschlägen weiter das historisch begründete „Ziel der demokratischen Gesellschaft in Russland“ bleibe.

Die erste Möglichkeit der Rückkehr zum demokratischen Erbe habe der Tod Stalins geboten. Die damals einsetzende Abkehr von dessen Politik wird allein Chruščëv zugeschrieben. Die einzige Maßnahme in der Zeit vor seiner Kritik am verstorbenen Diktator im Februar 1956, die erwähnt wird, ist die beginnende Rehabilitation der nach kommunistischen Kriterien schuldlos verurteilten Funktionäre. Welche Reformen danach gekommen sind, bleibt unklar. Trotzdem wird bei der Darstellung der Spätphase Chruščëvs der Eindruck erweckt, er sei der Vorgänger des großen Veränderers Gorbačëv gewesen und seine Widersacher in der Partei hätten durch seine Absetzung den bevorstehenden „Großen Umbau“ in Richtung Demokratie und Liberalität verhindert. Die Frage wird nicht gestellt, wieso seit Juni 1957, als alle Macht in den Händen Chruščëvs lag, nichts geschehen ist außer der Verurteilung von Stalins Personenkult und Repressionswillkür sowie einer nicht an demokratischen Zielen orientierten Reorganisation der KPdSU.

Die – im Buch nicht berücksichtigten – derzeit verfügbaren sowjetischen Interndokumente ergeben ein anderes Bild. (Vgl. u.a. Gerhard Wettig: Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. München 2006; Gerhard Wettig (Hrsg.): Chruschtschows Westpolitik 1955 bis 1964. 4 Bände. München 2011–2016) Die Abkehr von Stalin wurde im Frühjahr 1953 eingeleitet und forciert vor allem von Berija (der als vehementer Fortsetzer des bisherigen Terrors hingestellt wird). Dieser entließ beispielsweise 1 Million GULag-Häftlinge. Molotov und Malenkov wollten ebenfalls das Regime lockern, während Chruščëv als Mann der zweiten Reihe noch wenig zu sagen hatte und erst seit der von ihm betriebenen Verschwörung zum Sturz Berijas Ende Juni eine Rolle zu spielen begann. Das Motiv der Abwendung von den früheren Praktiken war, dass die Nachfolger selbst vor Stalin gezittert hatten, sowie die Einsicht, dass die UdSSR einer Normalität auf der Grundlage „sozialistischer Gesetzlichkeit“ bedurfte.

Chruščëv suchte stets die, wie er meinte, zu erwartende Attraktivität des Sowjetsystems durch die Beseitigung von Stalins Verzerrungen wiederherzustellen. Schritte zu einer Demokratie in westlichem Sinne lehnte er ebenso heftig ab wie jede Annäherung an das zum Erzfeind erklärte andere System. Gegen dieses wandte er sich, um es weltweit zu vernichten. Der „internationale Klassenkampf“ erforderte, wie sich in Ungarn 1956 oder bei der brutalen Niederschlagung friedlicher Demonstrationen in Tiflis (9.3.1956) oder in Novočerkassk (1.6.1964) zeigte, notfalls volle Gewaltanwendung. Die „friedliche Koexistenz“ betraf nur das zwischenstaatliche Ost-West-Verhältnis, weil ein Krieg in diesem Bereich das Risiko der nuklearen Selbstvernichtung in sich barg. Chruščëv bemühte sich gleichwohl in der beharrlich forcierten Berlin-Krise seit 1958, die Westmächte mit Kernwaffendrohungen zur Aufgabe ihrer Position zu nötigen. Wie interne Äußerungen erkennen lassen, ging es dabei um die Zerstörung des Zusammenhalts der NATO und die Verdrängung der USA aus Europa. Der Versuch scheiterte, als Washington im Herbst 1961 zu erkennen gab, dass es dem Bluff nicht weichen würde, und ein Jahr später durchsetzte, dass die heimlich auf Kuba stationierten Raketen zurückgezogen wurden. Dennoch hielt Chruščëv weiter an seinen Zielen fest. Sein Sturz wurde nicht zuletzt mit seinem Abenteurertum begründet, das die UdSSR in große Gefahr bringe.

Abgesehen von der Absage an Stalins willkürliche Machtausübung und gesellschaftliche Totalabschottung, fehlt bei Chruščëv also jede Gemeinsamkeit mit Gorbačëv. Dieser suchte – zunächst nur in der Sicherheitspolitik, dann aber zunehmend in allen Bereichen – die Zusammenarbeit mit dem Westen, ging zu einer defensiven Militärstrategie über, reduzierte einseitig die Streitkräfte, leitete in begrenztem Umfang eine Demokratisierung im Innern ein, verzichtete generell auf Gewalt zur Aufrechterhaltung des Sowjetsystems und akzeptierte als Konsequenz die Demokratisierung der osteuropäischen Länder und die Auflösung des östlichen Bündnisses. Geierhos nimmt diesen fundamentalen Wandel in den Blick, ohne konkrete Einzelheiten zu nennen, und folgert, Gorbačëv sei es von vornherein um die Abschaffung der KPdSU und die Schaffung westlich-demokratischer Verhältnisse gegangen. Das habe er nur aus taktischen Gründen nicht von Anfang an verkündet. Demnach war die Perestrojka ein bei Amtsantritt festgelegtes Programm der Revolution von oben mit dem Ziel, die Demokratie und die Liberalität des Westens einzuführen. Das sei ihm vollauf gelungen; die gesamte Entwicklung seiner Amtszeit bis hin zur Auflösung der UdSSR habe seiner zuvor fixierten Planung entsprochen.

Den Thesen des westlichen Systemzieles und der von Anfang an feststehenden Programmatik widersprechen die sowjetischen Archivalien, vor allem auch die Dokumente des Gorbačëv-Fonds. (Vgl. die Ergebnisse des von Mark Kramer initiierten und koordinierten Forschungsprojekts The Fate of Communist Regimes, 1989–1991, die 2017 in der Reihe The Harvard Cold War Studies Book Series veröffentlicht werden.) Die Politik des neuen Kremlchefs seit 1985 entwickelte sich schrittweise, wobei den internen Aussagen zufolge die jeweils nächste Etappe keineswegs auf vorbedachter Absicht beruhte. In der entscheidenden Phase 1989/90 war das Gegenteil der Fall: Die entstandene Dynamik zog Entwicklungen nach sich, die nicht gewollt waren. Gorbačëv wurde zum Getriebenen, dem das Geschehen aus der Hand glitt.

Wie erklären sich die Fehlurteile des Buches? Es stellt nicht konkrete Auseinandersetzungen, Entscheidungen, Erfolge und Fehlschläge dar, sondern gibt allgemeine geistesgeschichtliche Betrachtungen wieder, die, ausführlich wiedergegeben oder zitiert, aus einer passenden Auswahl von Memoiren und anderen Werken stammen. Wer an solcher Literatur interessiert ist, wird sehr viel finden. Es fehlt die Analyse. Die politischen Konturen verschwimmen, und erwünscht erscheinende Standpunkte werden unkritisch übernommen wie etwa Gorbačëvs spätere Selbstdeutung, mit der er sich hinterher als Schöpfer einer gelungenen demokratischen Reform präsentierte. Wenn diese Darstellung, die zu seinen Aussagen während des Geschehens in Gegensatz steht, nicht akzeptiert wird, soll damit seine Bedeutung als Staatsmann nicht in Abrede gestellt werden. Er hatte den Mut, die Herausforderung durch die Krise des sowjetischen Imperiums anzunehmen, eine Wende einzuleiten und nach neuen Wegen zu suchen. Sein Versuch, einen durch Qualitäten überzeugenden, das demokratische Ethos verwirklichenden Sozialismus zu schaffen, misslang, weil das Sowjetsystem nicht zu reformieren war. Der konsequente, auch in schwierigster Lage durchgehaltene Gewaltverzicht hat der UdSSR und ihrem zerfallenden Imperium blutige Katastrophen erspart, wie sie die Region in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitten hatte.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Wolfgang Geierhos: Der große Umbau. Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2016. 425 S. = Dresdner Historische Studien, 12. ISBN: 978-3-412-50385-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Geierhos_Der_grosse_Umbau.html (Datum des Seitenbesuchs)

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