Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), S. 173-175

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Anna Becker: Mythos Stalin. Stalinismus und staatliche Geschichtspolitik im postsowjetischen Russland der Ära Putin. Berlin: be.bra Wissenschaft, 2016. 151 S. = Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert, 2. ISBN: 978-3-95410-036-1.

Weder in der früheren Sowjetunion noch im russischen Nachfolgestaat sind die Verbrechen Stalins – die millionenfache Ermordung und Inhaftierung von Menschen einschließlich überzeugter, loyaler Kommunisten, die niemals begangener Untaten absichtlich beschuldigt wurden – systematisch aufgearbeitet worden. Zwar distanzierten sich von ihm schon seine unmittelbaren Nachfolger, denen nur der Tod des in der Öffentlichkeit gottähnlich verehrten Diktators Leib und Leben gerettet hatte, und es gab unter Chruščev zwei Anläufe einer Entstalinisierung. Die Nachfolger konnten aber keine durchgängige Auseinandersetzung mit Stalin und seiner Politik wollen, weil sie eng mit ihm verbunden gewesen waren und sich selbst als seine Komplicen hätten anklagen müssen. Zum einen beruhte ihre Herrschaft auf dem System, das er gestaltet hatte. Erst unter Gorbačev, der keinen Anteil an Stalins kriminellem Vorgehen mehr hatte und die bestehenden sozialistischen Strukturen zu verändern suchte, wurde es möglich, dass Historiker und Journalisten in der UdSSR Stalins Verbrechen ohne Rücksicht auf Rechtfertigungsbedürfnisse des Regimes an den Pranger stellten. Der Prozess beim Verfassungsgericht Russlands 1991/92, der Jelzins Verbot der KPdSU vom August 1991 überprüfte und bestätigte, ergab erste Ansätze zu einer breit angelegten, von der Führung unterstützten oder sogar getragenen Aufarbeitung der Stalin-Zeit, die aber nicht fortgeführt wurde.

Gegenwärtig wünscht und fördert das Regime in Moskau Publikationen über geschichtliche Themen, die sich nach den amtlicherseits gewünschten politischen Kriterien richten. Diese Darstellungen sind für die breite Öffentlichkeit und vor allem auch für die Schulen bestimmt und erscheinen daher in hohen Auflagen. Ihr offiziöser Charakter wird in der Regel dadurch verschleiert, dass sie von vorgeblich unabhängigen Institutionen und Organisationen herausgegeben werden, weil das Regime damit  möglichst nicht selbst hervortreten möchte. Das Image der Seriosität liefern mit üppigen Finanzmitteln ausgestattete Wissenschaftler, die nicht den fachlichen Standards, sondern den ihnen erteilten Aufträgen folgen. Zum optimalen Medium für die Verbreitung der offiziell gewünschten Standpunkte wurde das Internet, das wegen der meist kostenlosen Benutzung vor allem die Jugend dazu veranlasst, sich dort zu unterrichten. Insgesamt verzichten die Inhaber der Staatsgewalt zwar auf die in der Sowjetzeit übliche direkte Anleitung der Medien, sie üben aber dadurch, dass sie weithin über die nötigen Ressourcen verfügen und gegen unerwünschte Informationsträger mit Restriktionen vorgehen können, bestimmenden Einfluss auf die öffentliche Meinung aus. Anders als früher gibt es jedoch eine kleine Schar von Historikern, die sich nicht ohne Erfolg um eine unabhängige Forschung bemühen, ihre Ergebnisse aber nur in winzigen Auflagen bekannt machen können. Mithin entstehen durchaus fundierte Werke, die aber nur wenigen fachlichen Spezialisten zur Kenntnis gelangen.

Ein wesentliches Ziel der offiziellen Darstellungen ist, der Bedrohung des Zusammenhalts der Gesellschaft durch die Unzufriedenheit mit den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen dadurch entgegenzuwirken, dass ein auf die Vorstellung einer großartigen Geschichte gegründetes Gemeinschaftsbewusstsein geschaffen wird. Gleichzeitig geht es darum, die Kräfte des Landes auf die Wiederherstellung des russisch dominierten Imperiums auszurichten, dessen Auflösung nach Putins erklärter Ansicht die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Das Bewusstsein einer einzigartigen, grandiosen Vergangenheit soll die Bevölkerung sowohl von der Misere im Innern ablenken als auch zur Unterstützung des nach außen gerichteten, viele Ressourcen und großen Einsatz erfordernden Machtstrebens veranlassen. Was russische Anstrengungen in früheren Zeiten fertiggebracht haben, so lautet die Botschaft, lässt sich auch jetzt und in Zukunft wieder erreichen.

Der Kern dieses Volkserziehungsprogramms ist die „russländische Idee“ (rossijskaja ideja), das heißt ein Konzept kollektiver staatsnationaler Identität, das die Russen mit den anderen Ethnien des gegenwärtig bestehenden russischen Staates, im Grunde aber des gesamten nachsowjetischen Raumes vereinigt. Dabei geht es im Einzelnen um viererlei:

1. Stolz auf das Vaterland, seine Geschichte und seine Errungenschaften soll zu einem Patriotismus führen, der alle Staatsbürger miteinander verbindet.

2. Der russische Staat ist wegen seiner geopolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung stets und unter allen Umständen Großmacht.

3. Anders als in den westlichen Ländern ist in Russland eine straff ausgeübte Herrschaft als Grundlage und Garantie der Ordnung notwendig.

4. Die soziale Solidarität der russländischen Gesellschaft beruht auf vorherrschend kollektiven und paternalistischen Organisationsformen.

Diese Prinzipien werden zu traditionellen Werten erklärt, die sich in einer jahrhundertelangen Geschichte entwickelt und bewährt hätten. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Idee des nach innen und außen starken Staates zu, dessen Identität vom Ruhm der Vergangenheit bestimmt wird. Putins „Machtvertikale“ und der enorme Umfang der von ihm ausgeübten staatlichen Gewalt entsprechen demnach dem Wesen des Landes, das diesem die Rolle der Großmacht zuweise.

Als die beiden Leuchttürme der großen Zeit, als die Russen ein noch über die UdSSR hinausgehendes Imperium schufen und die Position der weltweit respektierten Supermacht gewannen, erscheinen Stalin als Führer der triumphalen Sowjetunion und der seinem Wirken zugeschriebene Sieg im Zweiten Weltkrieg. Putin ist sich zwar darüber im Klaren, dass Stalin für die millionenfache Ermordung und GULag-Inhaftierung staatstreuer Sowjetbürger und parteitreuer Kommunisten verantwortlich war und insofern nicht als politisches Vorbild gelten kann, will ihn aber der Bevölkerung und vor allem der Jugend als rational handelnden Staatsmann vor Augen zu stellen, der Russland groß gemacht hat. Wenn dabei auch Gewalt angewandt worden sei, so liege das an den geopolitischen Verhältnissen wie etwa der Weite des Landes, die eine „starke Hand“ und eine kraftvolle Führung erfordere. Wie diese Darlegung bei den Adressaten ankommen soll und tatsächlich auch weithin ankommt, wird durch den bezeichnenden Vorfall verdeutlicht: Eine Schülerin beschreibt in einem Aufsatz die Leiden ihrer Großeltern in Zwangsarbeitslagern und antwortet auf die ihr daraufhin von der Lehrerin gestellte Frage, wie sie denn über Stalin denke, er sei trotzdem ein effizienter Führer gewesen. Er war, so will es das offizielle Geschichtsbild, ein großer Staatsmann, der zwar keine besonderen Rücksichten nehmen konnte und sogar direkte Fehlhandlungen begangen hat, aber wirkungsvoll agierte und damit seinem Land zu der ihm gebührenden Größe verhalf.

Anna Becker zeigt aufgrund von meist wenig bekannten und beachteten russischen Quellen sehr genau und differenziert die unterschiedlichen Varianten auf, die bis 2014, als die Arbeit an dem Buch abgeschlossen wurde, in den verschiedenen regimenahen Quartieren Russlands und während der einzelnen Zeitabschnitte formuliert wurden. Die Grundgedanken änderten sich dabei kaum, doch wandelte sich im Detail und in der Akzentierung sehr viel. So fällt vor dem Hintergrund der seit Ende 2014 erheblich verschärften Tonart auf, dass zeitweilig, als sich Putin in den Jahren 2009 bis 2012 um ein freundliches Verhältnis zum Westen und besonders zu Polen bemühte, die – niemals in Abrede gestellten – Vorbehalte gegenüber Stalin und seiner Politik so sehr in den Vordergrund gerückt wurden, dass der Eindruck einer völlig ablehnenden Haltung entstehen konnte. Vorher und nachher dagegen war davon so wenig die Rede, dass der gegenteilige Schluss nahelag. Insgesamt wird die Geschichtspolitik unter Putin sehr klar und detailliert mit Nachweisen in den Fußnoten dargestellt. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis gestattet es dem Leser, weiter in das Thema einzudringen, wenn er das möchte. Die zurückhaltende sachliche Art der Auseinandersetzung mit dem Thema macht das Buch zur großen wissenschaftlichen Leistung, der auch gute Lesbarkeit für Laien bescheinigt werden kann. Wer sich mit der Vorstellungswelt befasst, die für Putin und seine Leute maßgebend ist, wird um die Lektüre dieses Werkes nicht herumkommen. Es ist zu hoffen, dass ähnliche Forschungen folgen werden, die Aufschluss über die weiteren Entwicklungen seit 2014 geben.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Anna Becker: Mythos Stalin. Stalinismus und staatliche Geschichtspolitik im postsowjetischen Russland der Ära Putin. Berlin: be.bra Wissenschaft, 2016. 151 S. = Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert, 2. ISBN: 978-3-95410-036-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Becker_Mythos_Stalin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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