Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 3, S. 415-418

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Andreas Kappeler (Hg.): Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung. Köln u.a.: Böhlau, 2011, XIV, 453 S., 7 Abb., 4 Farbtaf., Ktn. ISBN: 978-3-412-20659-8.

Der Sammelband geht auf eine Konferenz des Jahres 2009 zurück. Er beansprucht als „Handbuch zu Geschichte und Kultur der Ukraine während der letzten beiden Jahrhunderte“ gelten zu können (S. XII). Die Beiträge nähern sich unter verschiedenen Vektoren „Prozesse[n] ukrainischer Nationsbildung“ an, weil dieses Thema wie kein anderes die historische Entwicklung der Ukraine im 19. und 20. Jahrhundert – beziehungsweise deren wissenschaftliche Erforschung (!) – geprägt hat. Die Autorinnen und Autoren der insgesamt dreißig Aufsätze sind sich einig in der Ablehnung essentialistischer und primordialer Interpretationen dieser vielgestaltigen, keinesfalls teleologischen Prozesse und teilen zugleich eine „kritische Solidarität gegenüber dem ukrainischen Staat und der ukrainischen Nation“ (S. 17 f).

Ein erster Abschnitt widmet sich der Historiographie und theoretischen Zugängen zur ukrainischen Geschichte der letzten zwanzig Jahre. Orest Subtelny und Andriy Portnov zeichnen die Wege der Geschichtswissenschaft in der unabhängigen Ukraine nach. Diese waren gekennzeichnet von der Abgrenzung gegenüber dem „großen Bruder“ Russland, der Beschäftigung mit bisherigen Tabuthemen und „weißen Flecken“ der jüngeren ukrainischen Geschichte, primordialen sowie modernistischen oder konstruktivistischen Interpretationen der ukrainischen Nationsbildung. In einem innovativen Ansatz beleuchtet Philipp Ther anhand des polnischen und ukrainischen Beispiels die Wechselwirkungen zwischen den Vielvölkerreichen Osteuropas und den in ihnen stattfindenden Nationsbildungsprozessen: „Nationalisierende Imperien“ – zu denen auch die Sowjetunion zu zählen ist – sowie die verschiedenen Nationalbewegungen, die in deren Rahmen miteinander kommunizierten und sich konkurrenzierten, hielten vielfältige Identifikationsangebote bereit. Anna Veronika Wendland zeigt in ihrem Beitrag verschiedene fruchtbare Anwendungsgebiete für eine transnationale Geschichte, für eine Geschichte der Kulturtransfers und eine Verflechtungsgeschichte der Ukraine auf. Einen Überblick über die Ergebnisse der frühneuzeitlichen Ukraine-Forschung und ihre Ergebnisse zur Nationenbildung auf dem Gebiet Rutheniens bringt Frank E. Sysyn in den Sammelband ein. Er relativiert damit als einziger Autor die Tendenz, die Konstruktion der ukrainischen Nation einzig als Ergebnis des 19. und 20. Jahrhunderts zu sehen.

Der zweite Abschnitt widmet sich einzelnen für die ukrainische Nationsbildung bedeutenden kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren. Richarda Vulpius untersucht den Zusammenhang zwischen den orthodoxen Kirchen in der Dnjepr-Ukraine und nationalen Identitätskonstruktionen. Ihr Beitrag entspricht allerdings weniger einem zusammenfassenden Handbuch-Artikel zum Faktor Religion als einem anregenden Forschungsbericht. Ähnliches gilt für die Ausführungen von Michael Moser zur ukrainischen Sprachhistoriographie: eine kritische Rezension eines ukrainischen Standardwerks, kaum aber ein einführender Überblicksartikel. Interessante Perspektiven auf das Phänomen der synchronen und diachronen Mehrsprachigkeit in der „ukrainischen“ Literatur eröffnet der Artikel von Stefan Simonek. Tatiana Zhurzhenko stellt vier Schulen des ukrainischen Feminismus vor, die zu einem großen Teil einen weitgehenden Gleichklang von gesellschaftlicher Modernisierung, Nationsbildung und Feminismus, einen „Nationalfeminismus“, vertreten. Am Beispiel des Begründers der wissenschaftlichen Geographie in der Ukraine, Stepan Rudnyc’kyj, untersucht Guido Hausmann die Vermengung von Legitimation der ukrainischen Nation und „wissenschaftlicher“ Geographie. An eine der Grundfragen ukrainischer Nationsbildung rührt Kai Struve in seinem Artikel, der die Integration der Bauern in Ostgalizien und der zarischen Ukraine in die Nationalbewegungen verfolgt. Neben den unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen und politischen Partizipationsmöglichkeiten, die das Habsburger- und das Zarenreich eröffneten, war die nationale Mobilisierung der Bauern auf beiden Seiten der Grenze dort erfolgreich, wo sich nationale Postulate mit sozialen Anliegen der Bauernschaft verbanden. Harald Binder schließlich liefert einen Überblick über die Stellung der Städte im Rahmen der ukrainischen Geschichte und besonders der ukrainischen Nationsbildung. Dass dieses Element bisher eher unterbelichtet blieb, führt er auf den multiethnischen Charakter der städtischen Siedlungen zurück, in welchen die ethnischen Ukrainer bis ins 20. Jahrhundert jeweils eine Minderheit bildeten. Dies verbannte sie an die Peripherie einer ethnisch verstandenen Nationalgeschichtsschreibung.

Der dritte Teil des Sammelbandes ist dem ukrainischen Verhältnis zu den Nachbarvölkern gewidmet – der Verflechtungsgeschichte, die für die Ukraine konstitutiv ist. Andreas Kappeler schildert die Ebenen der ukrainisch-russischen Beziehungen im Prozess der Nationsbildung. Er unterstreicht, dass sich die Ukraine aufgrund der vielen Gemeinsamkeiten und des Verbindenden weder territorial-staatlich noch religiös oder sprachlich und historisch einfach von Russland abgrenzen könne. Anders präsentiert sich das Verhältnis zur polnischen Nation, wo die sozialen, religiösen und sprachlichen Distinktionsmerkmale viel eindeutiger sind. Die historischen Entwicklungsetappen des konfliktträchtigen ukrainisch-polnischen Verhältnisses, das in Verbindung mit jenem zu Russland eine historisch komplizierte Dreiecksbeziehung ergibt, beschreibt Christoph Augustynowicz. Zumindest politisch hat sich dieser Vektor, anders als der ukrainisch-russische, in den Jahren seit 1991 entkrampft. Zwei Kapitel schließlich sind dem ukrainisch-jüdischen Verhältnis im späten Zarenreich (Alexis Hofmeister) und in Galizien bis in die Zwischenkriegszeit (Svjatoslav Pacholkiv) gewidmet. Beide Autoren zeichnen dabei ein Bild, das gegen verbreitete Stereotypen die Komplexität und Vielschichtigkeit der ukrainisch-jüdischen Beziehungsebenen hervorhebt.

Im nachfolgenden Abschnitt kommen mit der Sloboda-Ukraine, der Bukowina und den Rusynen regionale Varianten von Nationsbildungsprozessen zur Sprache. Volodymyr Masliychuk verfolgt den „provinziellen Regionalismus“ der Sloboda-Ukraine „als einen Teil der imperialen Identität“. Diese verschmolz erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit jener Kleinrusslands zu einer überregionalen ukrainischen Identität. In seiner Detailstudie zeigt Kurt Scharr, wie in der Bukowina eine sowohl Ruthenen als auch Rumänen einigende orthodoxe Identität im Laufe des 19. Jahrhunderts durch konfligierende nationale Identitäten abgelöst wurde. Einen kommentierten Überblick über die seit 1989 entstandene Forschungsliteratur zur Frage, ob die Rusynen eine eigene Nation seien, oder besser sich in den letzten zwanzig Jahren zu einer solchen entwickelt hätten, liefert schließlich Paul Robert Magocsi.

Die letzten beiden Teile des Sammelbandes zeichnen in chronologischer Reihenfolge Kapitel der Geschichte der ukrainischen Nationsbildung im 20. Jahrhundert nach. Mark von Hagen gibt einen Einblick in die Staatsbildungsprojekte auf ukrainisch-galizischer und ukrainisch-russländischer Seite im Verlauf des Ersten Weltkriegs und die Rolle, die Militär und Krieg bei der Nationalisierung nicht nur der ukrainischen Soldaten spielten. Differenziert beschreibt Rudolf A. Mark für den gleichen Zeitraum, wie auf Seiten der ukrainischen Politiker bis zur russischen Oktoberrevolution Vorstellungen über eine ukrainische Autonomie innerhalb eines föderativ strukturierten russländischen Vaterlands den politischen Diskurs dominierten. Erst durch die bolschewistische Radikalisierung der Revolution trat die Forderung nach Unabhängigkeit in den Vordergrund. Eine auf Archivmaterial basierende lokale Detailstudie zu den Mühen und Erfolgen der sprachlichen Ukrainisierung in den Schulen im Gebiet von Odessa präsentiert Matthew D. Pauly. Wohltuend distanziert skizziert Frank Golczewski den Weg von Teilen der ukrainischen Nationalbewegung in die nationalistische Radikalisierung der OUN / UPA – im Willen, die ukrainische Nation unter Inkaufnahme exterminierender Gewalt und von Kollaboration mit den deutschen Besatzern endlich zu ‚erschaffen‘, nachdem die Bemühungen der vorangehenden Generation in den Jahren 1917–1920 keinen Erfolg gezeitigt hatten. In einem Forschungsbericht über den Stand der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs unterstreicht Tanja Pentner die regional unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Sie beschreibt die komplexe Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen von Opfer- und Täterrollen, von Zwangsarbeitserfahrungen, Kollaboration und nationalistischem Widerstand, die in vielen ukrainischen Kriegsbiographien miteinander verschmelzen. Die sowjetische Periode beschließt der Aufsatz von Katrin Boeckh. Sie konzentriert sich auf die Sowjetisierung der Ukraine, ihres Bildungswesens und der Kultur unter dem ideologischen Dogma des „Sowjetvolks“ in der späten Sowjetunion. Gerhard Simon zieht in seinem Beitrag Bilanz, inwiefern es in der unabhängigen Ukraine über die regionalen Unterschiede hinweg gelungen ist, die Nation als notwendige Konsens­ressource eines demokratischen Staates zu etablieren. Die Entwicklung der Sprachpolitik in der unabhängigen Ukraine ist Gegenstand des Aufsatzes von Juliane Besters-Dilger. Die mehr oder minder intensiven Versuche, das Ukrainische mangels anderer geeigneter kultureller oder historischer Distinktionsmerkmale zur Grundlage der postsowjetischen ukrainischen Nationsbildung zu machen, sei nicht zuletzt wegen der Politik des Europarats als gescheitert zu betrachten. Martin Malek geht in seinem Beitrag auf das verbreitete, bis in höchste politische Kreise reichende russische Unbehagen über die Existenz einer ukrainischen Nation und deren Staates ein. Die Stimmen, die er beibringt, zeugen von einem russisch-imperialen, ukrainophoben Komplex. Den Umgang mit der historischen Erinnerung während der letzten zwanzig Jahre untersucht mit Yaroslav Hrytsak jemand, der selbst prominent in diese Diskussionen involviert war. Die Bruchlinien, die die historische Erinnerung auf der gesellschaftlichen und der manipulativen politischen Ebene durchziehen, werden sich nach Meinung des Autoren nur überwinden lassen, wenn eine Pluralität der Perspektiven auf die Geschichte als normal akzeptiert und nicht mehr die Ausschließlichkeit gepflegt wird. Mykola Ryabchuk beschließt den Sammelband mit einer essayistischen Bilanz über Erfolge und Enttäuschungen von zwanzig Jahren ukrainischer Identitäts- und Staatsbildung.

Die Beiträge zählen durchschnittlich 10–15 Seiten, was sie dank ihrem einführenden Charakter, von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa für den Einsatz in der Lehre sehr empfiehlt. Fast jedem Aufsatz ist eine hilfreiche Handvoll an Titeln weiterführender Literatur beigegeben, die eine Zeittafel und ein Glossar am Ende des Sammelbandes ergänzen.

Christophe v. Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Andreas Kappeler (Hg.): Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung. Köln: Böhlau, 2011, XIV, 453 S., 7 Abb., 4 Farbtaf., Ktn. ISBN: 978-3-412-20659-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Werdt_Kappeler_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)

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