Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  605–607

Jörg Gebhard Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815–1914). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2006. 394 S., 40 Abb., Tab. ISBN: 978-3-412-07606-1.

Die Lokalstudie ist in einen neueren Trend der Stadtgeschichtsforschung einzuordnen, die sich von der Fixierung auf die Metropolen löst und sich der Untersuchung von Provinzstädten und Städtenetzen zuwendet. Sie bezieht sich darüber hinaus auf die Diskussion über die angemessene Darstellung der neuzeitlichen ostmitteleuropäischen Geschichte, und geht speziell der Frage nach, ob jenseits des westlichen Modernisierungs- und Verbürgerlichungsnarrativs ost(mittel-)europäische Stadtgeschichte geschrieben werden kann.

Sie könnte, wie Gebhards Buch zeigt, denn es demonstriert sowohl das enorme Potenzial der Lokalstudie als auch ihre Fallstricke. In acht Kapiteln stellt der Verfasser die Deutungszusam­menhänge einer ostmitteleuropäischen Stadt­geschichte vor: die großräumliche Einordnung; die Urbanisierungsgeschichte als Geschichte eines erst langsamen, dann im Zuge der Eisenbahn- und Kommunikationsrevolution rapide fortschreitenden technischen und diskursiven Wandels; die Erfahrung imperialer Herrschaft und der daraus resultierenden Rahmenbedingungen urbaner Entwicklung, nämlich einerseits politischer Restriktion kommunalen Handelns und andererseits räumlicher Neukontextualisierung durch neue Grenzziehungen – und neue Märkte.

Die Stärke des Buches ist unzweifelhaft der quellengesättigte Einblick in das städtische Leben an der imperialen Peripherie. Sehr aufschlussreich sind die Informationen zur Industrialisierungsgeschichte, zur Rolle der polnischen Beamtenschaft in russischen Staatsdiensten, zur extremen Diskrepanz zwischen Urbanisierungsfolgen und städtetechnischer Entwicklung sowie zu den Lebenswelten der orthodox-jüdischen Mehrheitsbevölkerung zwischen Verelendung und Aufstieg in protoindustrielle oder freiberufliche Mittelschichten. Lebendig werden die Kontroversen um die kulturelle Deutungshoheit in der Stadt dargestellt, die eigentlich aus zwei, lange auch rechtlich unterschiedenen Städten bestand, einer christlichen und einer jüdischen. Dabei bleibt der Lubliner Katholizismus – zunehmend in Kombination mit der polnischen Nationalidee und einem modernen Antisemitismus – vor allem als ambitionierter, aber sich als undurchlässig für Neuerungen erweisender, auf Konfrontation mit den jüdischen Kulturen ausgerichteter Faktor in Erinnerung.

Bedauerlicherweise wird das Lesen dieser hochinteressanten Mikrostudien durch unnötige Weitschweifigkeiten erschwert – hier hat die Begeisterung über das aufgefundene Material dazu verführt, es auch in seiner Gesamtheit vorzulegen. Vielen Sachverhalten und biographischen Details, die keine relevanten zusätzlichen Erkenntnisse zur Stadtgeschichte oder zum Untersuchungszeitraum bereithalten, wird breitester Raum gegeben, auch im Quellenanhang. Und leider geht die Sprache „dem Historiker“ häufig durch. „Der Historiker bietet eine Interpretation jener Trümmerlandschaften an, die kollektive Gedächtnisse darstellen. Er stöbert in dessen [sic!] staubigsten Winkeln“ (S. 288), er muss „Lublin gesehen und beschritten haben, um es zu beschreiben“ (S. 26). Offensichtlich wollte der Autor einen schlögelschen Ton anschlagen, um die Darstellung lebendig zu machen, ohne aber die Qualität des Vorbilds zu erreichen; da werden „Weichen … gelegt“ (S. 88), „sozialer Sprengstoff gärte“ (S. 175), oder es ist die Rede vom „russischen Raum“, vom „zutiefst polnischen Land“ (das die Lublin-Chełmer Gegend eben gerade nicht war), von Einflüssen „aus russischen Landen“ (S. 31–32, 35). Dies hätte ein gründliches Lektorat bemerken und verhindern können, ebenso wie die ärgerlichen, weil extrem häufigen Druckfehler.

Begibt man sich zudem an das Entrümpeln von Trümmerlandschaften der Gedächtnisse und Narrative, dann melden sich hinsichtlich der Titelwahl einige grundsätzlichere Bedenken. Der „Hinterhof der Moderne“ ist eine starke Raum-Zeit-Metapher, deren Eigengewicht zur Belastung der Gesamtkonzeption wird: Nimmt man die Provinzstädte in ihrer Historizität und in ihrer Differenz zu den Metropolen ernst – und das intendiert der Verfasser mit seinem Ansatz – dann erweist sich das Defizit-Narrativ, das im „Hinterhof“ aufscheint, als Antagonist seines erkenntnisleitenden Konzeptes, das ja gerade in der Kritik des westlichen Modernisierungsnarrativs gründet. Der Hinterhof impliziert das Vorderhaus; und die Produzenten von Ego-Dokumenten oder Warschauer Korrespondentenberichten (und auch der mehrmals herangezogene Alfred Döblin als ex-post-Zeitzeuge) neigten in der Regel dazu, ihre Lebensläufe und Reisewege auch als Durchmessung von Raum-Hierarchien zu konzipieren: vom Dorf in die Stadt, von der Provinzstadt in die Metropole oder umgekehrt. Dies ist gar nicht so untypisch auch für Städte, die aus Lubliner Perspektive Metropolen gewesen sein dürften – beispielsweise Lemberg oder Wilna, die – immer diese Perspektivierung zugrundegelegt – nach den Teilungen ebenfalls in Hinterländern oder Hinterhöfen der Imperialzentren groß wurden, und aus denen es ebenfalls eine Menge von Selbstzeugnissen über Provinzflucht gibt.

Was die Lublin-Studie aber gerade interessant macht, ist die Feinanalyse des – für sich genommen – enormen Wandels der Provinzzentren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und die Offenlegung einer Vielfalt von Verfahrensformen im und mit dem Urbanisierungsprozess. Zu den spezifischen Urbanisierungserfahrungen der Provinzstädte – nicht nur in Ostmitteleuropa – gehörte dabei auch eine enge Stadt-Land-Verzahnung, die lange erhalten bleibende Bindung der Arbeitsmigranten an ihre ländlichen Herkunftsgebiete und deren Traditionalismus, die agrarischen Profile der städtischen Industrien (Nahrungs- und Genussmittelindustrie, Rohstoffverarbeitung, Landmaschinenbau) und die Struktur der städtischen Eliten und ihrer zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, in denen der grundbesitzende Umland-Adel und die Staatsbeamtenschaft bedeutende Rollen spielten. Allerdings wird den erwähnten Aktivitäten vom Autor die Zivilgesellschaftlichkeit aufgrund der Unterrepräsentation (industrie-)bürgerlicher Ak­tivisten fast wieder abgesprochen, der Eindruck des Defizitären also unterstrichen. Gleichwohl waren die genannten Prozesse und Strukturen in diesem konkreten räumlichen Kontext die einzig existierende Ausformung der europäischen Moderne. Will man aber an deren „Hinterhöfen“ festhalten, dann befanden sich diese – legt man städtische Alltagserfahrungen, Lebensstandards und -erwartungen an der Wende zum 20. Jahrhundert zugrunde – eben nicht nur in Lublin, sondern auch in den Slums und Peripheriezonen der großen Metropolen.

Anna Veronika Wendland, Marburg/Gießen

Zitierweise: Anna Veronika Wendland über: Jörg Gebhard Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815–1914). Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2006. ISBN: 978-3-412-07606-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 605–607: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wendland_Gebhard_Lublin.html (Datum des Seitenbesuchs)