Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 1, S.  137-138

Gregor Thum Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006. 211 S., 19 Abb.

Die Autoren dieses Taschenbuches präsentieren Facetten deutscher Haltungen zu Ost- und Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert.

Gerd Koenen geht dem „deutschen Russlandkomplex“ in der Schlussphase des Ersten Weltkriegs bzw. kurz nach dessen Ende nach. Dieser speiste sich nach Meinung Koenens aus der hoffnungsvollen Erwartung gegenüber der bolschewistischen Revolution einerseits und einer konservativen Erlösungshaltung in Bezug auf die russische (Hoch-)Kultur andererseits. Anders als man sich gemeinhin vorstellen könne, sei in der NS-Zeit ein unklares, nach Bedarf modifizierbares Bild von Russland und dem Bolschewismus entstanden, das nach Ansicht des Autors in seiner Ambivalenz bis heute fortwirkt.

Kontinuitäten sieht auch Vejvas G. Liule­vi­cius in seinem Text zum „Osten als apokalyptischer Raum“ hinsichtlich der Fronterfahrungen im Ersten Weltkrieg, die er in drei Phasen (1914, 1915–1918, 1918) gliedert. Die jeweils unterschiedlichen Erfahrungen und Erinnerungen der Kriegsteilnehmer hätten dem Nationalsozialismus eine gefährliche Gemengelage zur Verfügung gestellt, die er später habe nutzbar machen können.

Karl Schlögel zeichnet anhand des von der Zwischenkriegszeit bis in die frühe Bundesrepublik überaus erfolgreichen Autors Edwin Erich Dwinger die „russische Obsession“ in Deutschland nach. Als Romanautor habe Dwinger, der sich parteienübergreifend großer Popularität erfreut habe, das populäre Russlandbild mit geprägt, sei aber als selbsternannter Politikberater während des Zweiten Weltkriegs gescheitert.

In Abgrenzung zu Maria Todorovas These vom Balkan-Stereotyp befasst sich Stefan Troebst mit dem deutschen Bild von den Makedoniern seit dem Ersten Weltkrieg. In diesem Krieg sei es zu einer Verbrüderung deutscher Soldaten und Angehöriger der „Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation“ (IMRO) gekommen. Die „Solidarität der Weltkriegsverlierer“ habe in der Zwischenkriegszeit ein positives Makedonienbild kreiert, von dem sich aber bereits Hitler distanziert habe und das nach 1945 zunehmend verblasst sei.

Als Synthese seiner Monographie über Hermann Aubin präsentiert Eduard Mühle das Bild des „Ostens“ im Schaffen dieses Historikers von der Weimarer Republik bis in die Zeit der Bundesrepublik Deutschland. Dabei pointiert er die geschichtspolitischen und interpretatorischen Kontinuitätslinien, die bei Aubin von den zwanziger bis in die sechziger Jahre nachverfolgbar sind.

Originell ist Kristin Kopps kleine Studie zu Kurt Hoffmanns Heimatfilm „Ich denke oft an Piroschka“ (1955). Sie untersucht das scheinbar harmlose Sujet mit dem methodischen Instrumentarium der postcolonial studies und einer sehr präzisen, auf Text, Bild und Symbolik bezogenen Diskursanalyse. Dabei gelangt sie zu dem Ergebnis, die begeisterte Aufnahme des sich weitgehend passiv verhaltenden deutschen Austauschstudenten Andreas im Jahre 1925 in Ungarn stehe für das „vermeintliche Verlangen des Kolonisierten nach der Kolonialherrschaft“, eine Darstellung, die – gerade ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – darauf abzielte, die deutsche Präsenz im „Osten“ zu legitimieren und Osteuropa „in Form eines östlichen Traumlandes in das Deutschland der Nachkriegszeit zurückzubringen“.

Weniger differenziert wirkt hingegen der Überblicksbeitrag von Jan C. Behrends zum Bild Russlands resp. der Sowjetunion in der SBZ bzw. späteren DDR, das er an den Begriffen „Erfahrung“ und „Propaganda“ festmacht. Für einen Aufsatz dieser Länge dürfte das sehr komplexe Thema zu weit gefasst worden sein, um wirklich zu einer stichhaltigen Argumentation zu kommen.

In einem eigenen Beitrag geht der Herausgeber Gregor Thum auf die im 20. Jahrhundert wechselnden Auslegungen des „deutschen Ostens“ ein. Diesen sieht er als reale „Landschaft des Übergangs von der deutschen Kultur zu den Kulturen der östlichen Nachbarvölker“ und als „Raum bitterer Konflikte und ungeheurer Kreativität“. Allerdings gelingt es ihm nicht, dessen Faktizität klar vom Mythos zu trennen. Trotz seines interessanten Hinweises auf die Kolonialperspektive vermag er nicht der traditionellen Deutung deutscher Minderheiten als passiver Opfer der staatsrechtlichen Lösungen von 1919 zu entkommen. Und auch die „völkische Wende“ ist in der Realität wohl schon deutlich vor der Zwischenkriegszeit anzusetzen, nämlich etwa in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts.

War der Osten wirklich der Deutschen „Traumland“? Dieser Begriff ist im populären Verständnis mythischen Landschaften vorbehalten, etwa Chatwins Dreamland der australischen Aborigines oder touristischen Paradiesen. Ein solches Paradies war der „Osten“ möglicherweise nach 1945 für deutsche Vertriebene, die sich in der Erinnerung eine Heimat-Traumlandschaft zurechtlegten. Im 20. Jahrhundert verbanden sich aber mit dem „Osten“ eher handfeste deutsche Interessen. Der Band ist insgesamt nicht mehr als ein Zwischenruf in einer überfälligen Diskussion.

Tobias Weger, Oldenburg

Zitierweise: Tobias Weger über: Gregor Thum: Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2006. 211 S., 19 Abb, ISBN: 978-3-525-36295-2., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 1, S. 137-138: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Weger_Thum_Traumland_Osten.html (Datum des Seitenbesuchs)