Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 448-449

Verfasst von: Ernst Wawra

 

Christoph Schmidt: Vom Messias zum Prolet. Arbeiter in der Kunst. Stuttgart: Steiner, 2010. 116 S., 16 Abb. ISBN: 978-3-515-09808-3.

Der Arbeiter – ein kräftiger Mann unbestimmten Alters, mit Hemd und einem Arbeitskittel bekleidet; sein Werkzeug – ob Hammer, Schaufel oder Presslufthammer – in den Händen haltend oder sich darauf stützend; dazu noch eine (rote) Fahne, die vor der weit im Hintergrund aufgehenden, eine bessere Zukunft verheißenden Sonne im Wind weht. So das international verbreitete und häufig verwendete Bild „des Arbeiters“ beispielsweise anlässlich der Feiern zum 1. Mai. In der visuellen Propaganda des nachrevolutionären Russlands übernahm die Arbeiterklasse vielfältige Aufgaben, wie die direkte Verteidigung des Landes oder auch die Unterstützung der Roten Armee im Hinterland durch die Aufrechterhaltung der Produktion und den weiteren Abbau von Bodenschätzen. So ringt etwa im Plakat „Der Kampf des roten Ritters mit der dunklen Macht“ von Boris V. Zvorykin (Moskau 1919) ein Schmied, lediglich mit einem Hammer bewaffnet, sowohl den „weißen“ als auch den schwarzen Ritter, den Vertreter des Kapitals, nieder. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 kämpfte auf den wieder auftauchenden Propagandaplakaten abermals ein Arbeiter gemeinsam mit dem Rotarmisten gegen die neue Gefahr aus dem Westen. So wenig sich seine Attribute, meist Hammer und Amboss, in der sowjetischen Propaganda in den etwas mehr als 25 Jahren seit der Oktoberrevolution gewandelt hatten, umso mehr änderte sich das Erscheinungs- und Gesamtbild des Arbeiters selbst.

Nachverfolgen lässt sich dies mit Hilfe der hier zu besprechenden Untersuchung „Vom Messias zum Prolet. Arbeiter in der Kunst“ von Christoph Schmidt. Darin analysiert der Autor das so vielfältig und unterschiedlich gestaltete Motiv des Arbeiters, beginnend bei Gustave Courbets „Die Steineklopfer“ von 1849 (S. 119) bis hin zu Frida Kahlos „Der Marxismus heilt alle Kranken“ von 1954 (S. 132). Als Untersuchungsgegenstände wurden Werke aus Frankreich und der Sowjetunion gewählt, wobei auch am Beispiel zweier deutscher Künstler – Adolph Menzel und Heinrich Vogeler – Interdependenzen zwischen den Darstellungen in diesen Ländern nachgewiesen werden. Nach einer Einleitung zu „Politisierung und Malerei“ (S. 7) analysiert Schmidt in acht Kapiteln verschiedene Bilder von Arbeitern, meist anhand eines repräsentativen Künstlers wie Vladimir Krinskijs oder einer Stilrichtung wie des Sozrealismus. Hierbei reicht seine Beschreibung von der provokativen Wirkung des ersten Arbeiterbildes bis zum Niedergang dieses Motivs, nachdem sich „der Arbeiter“ der Konnotation mit dem Schmutzigen entledigt hatte und zur Ikone stilisiert worden war. Dabei legt Schmidt Wert darauf, dass bei jeder Analyse drei Elemente Beachtung finden, „der Entstehungskontext“, „der Wandel des Motivs“, und die „interessanteste Ebene […], wo Ideologie endet und Psychologie beginnt“ (alle drei Zitate S. 11).

Im Anhang findet sich neben einem Abbildungsverzeichnis ein die wichtigsten Titel umfassendes Literaturverzeichnis. Abgerundet wird das Buch durch zehn Abbildungen und Fotografien im Fließtext sowie einen Tafelteil, in dem 16 der hauptsächlich besprochenen Werke in sehr guter Qualität farbig abgedruckt sind.

Den Scheitelpunkt in der Darstellung des Arbeiters sieht Schmidt richtig nach der Oktoberrevolution in Russland 1917. Daher überrascht es, dass die Darstellung auf den Propagandaplakaten und ROSTA- bzw. GPP-Fenstern beispielsweise von Viktor N. Deni oder von Dmitrij S. Moor keine Beachtung gefunden hat, gerade weil dort die Grenze zwischen Kunst und Propaganda fließend verläuft. Wandelte sich die visuelle Umsetzung des Proletariers nicht auch in diesem Medium? War nicht auch hier eine „ideologisiert[e]“ (S. 8) Figur anzutreffen? Und repräsentierte nicht auch im Plakat „der Arbeiter“ die zentrale Figur für den Aufbau des Landes in der Zeit zwischen dem Bürgerkrieg und dem „Großen Vaterländischen Krieg“?

Doch sollen diese Anmerkungen, die auch dem persönlichen Interesse des Rezensenten an dieser Form der visuellen Umsetzung von Inhalten für eine zum größten Teil il­litera­te Bevölkerung geschuldet sind, den Wert dieses Buches nicht schmälern. Insgesamt bietet die zudem unterhaltsam zu lesende Untersuchung kenntnis- und detailreiche Beschreibungen der gewählten Werke und einen tiefen Einblick in das so wandelbare Motiv des Arbeiters, an welchem sich über kunsthistorische Zusammenhänge hinaus auch Aussagen über die wechselnden politischen Situationen in Frankreich und der Sowjetunion treffen lassen. Wie sehr sich Kunst und Künstler mit einer Politisierung auseinanderzusetzen hatten, diese annahmen oder subversiv unterliefen wie Pavel Filonov, davon zeugt auch das Bild „des Arbeiters“. Die Entwicklung „vom Messias zum Prolet“ hat Schmidt überzeugend und eindrucksvoll aufgezeigt.

Ernst Wawra, Göttingen

Zitierweise: Ernst Wawra über: Christoph Schmidt: Vom Messias zum Prolet. Arbeiter in der Kunst. Stuttgart: Steiner, 2010. 116 S., 16 Abb. ISBN: 978-3-515-09808-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Wawra_Schmidt_Vom_Messias_zum_Prolet.html (Datum des Seitenbesuchs)

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