Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011) H.4

Verfasst von: Hans-Erich Volkmann

 

Jörn Hasenclever: Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete 1941–1943. Paderborn [usw.]: Ferdinand Schöningh, 2009. 613 S., Ktn., Tab. = Krieg in der Geschichte, 48. ISBN: 978-3-506-76709-7.

Allmählich verschwinden die weißen Flecken unerforschter Gebiete auf der Karte na­tionalsozialistischer Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion. Sie nehmen eine tief­rote Farbe an als Symbol blutiger Unterdrückung, für die der militärischen Führung vor Ort, den einzelnen Kommandeuren lediglich graduell unterschiedlich, ein hohes Maß an Verantwortung zuzumessen ist. Eben dies ist die Quintessenz einer be­reits in den „Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas“ vorgestellten Studie über die Oberbefehlshaber im Krieg, die auch für die Beurteilung der Befehlshaber der rück­wärtigen Heeresgebiete (Berück) gilt. Bei den rückwärtigen Heeresgebieten Nord (Befehlshaber General Franz von Roques), Mitte (General Max von Schenckendorff) und Süd (Generale Karl von Roques 19411942, Erich Friderici 19421943) handelte es sich um solche Territorien, die die kämpfenden Armeen bereits durchzogen hatten und die einer Militärverwaltung als administrativem Provisorium unterstellt wurden. Sie gingen dann teilweise in den errichteten Reichskommissariaten Ostland und Ukraine auf, blieben aber in weitaus größerer Ausdehnung wegen des unerwartet negativen Kriegsverlaufs bestehen, ehe Hitler sie im Zuge der sowjetischen Offensive vom Herbst 1943 auflöste.

Das vorliegende Buch durchzieht eine dreidimensionale Thematik. Diese beinhaltet zum einen die Geschichte einer militärischen Okkupationsverwaltung, die in Struktur und Wirksamwerden bestimmt war von der vom „Führer“ gestellten Aufgabe, das be­herrschte Land wirtschaftlich auszubeuten und einer volkstumspolitisch motivierten Säuberung zu unterziehen. Das bedeutete die Ausrottung der Juden und die Vernich­tung der Intelligenz der übrigen Bevölkerung, die auf einen Helotenstatus herabzu­drücken war. Neben diesem Sachkomplex, aber dazu in engem Kontext, figuriert ein diesen stark personalisierender biografischer Teil. Das heißt, im Mittel­punkt der Betrachtung stehen die vier genannten Befehlshaber und deren individuelle Verantwortlichkeit für das völkerrechtswidrige Gebaren eines auf Unterdrückung ausgerichteten Besatzungsregimes. Man erwartet gespannt die Urteilsfindung des Au­tors, der den Leser im biografischen Vorspann bereits wissen lässt, dass als Berück lediglich Karl von Roques im OKW-Prozess der Verbrechen gegen Frieden und Menschlichkeit angeklagt und verurteilt wurde. Als letztthematische Leitlinie verfolgt der Autor die berufliche Sozialisation der Generale vom Kaiserreich zum „Dritten Reich“, um zu möglicherweise differenzierenden Erklärungsansätzen für das Verhältnis der Berück zum Nationalsozialismus, aber auch für ihr Aufgabenverständnis zu gelan­gen.

Dieses methodische Vorgehen spricht für den sensiblen Umgang mit den Hauptfi­guren, deren Denken und Tun in eine historische Bewusstseinsgenese gestellt ist. Das verdeutlicht exemplarisch die Behandlung der Juden: Ohne eigentlich Judenhasser zu sein, verwendet Schenckendorff schon während des Ersten Weltkrieges antisemiti­sche Stereotype, die jedoch klassisch-konservativer Denktradition entsprachen. Wenn er das Vorgehen von SS und Polizei bei ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Juden unterstützte, dann als NSDAP-Mitglied wegen der vermeintlichen Identität von Bol­schewismus und Weltjudentum. Exzesse wie die eines Polizeibataillons, denen 800 Juden in einer in Brand geschossenen Synagoge zum Opfer fielen, verurteilte der Ge­neral wegen seiner Gleichstellung von Jude und Partisan ebenso wenig wie das Wü­ten der SS z. B. in den Pripjetsümpfen, wo Zigtausende von Juden ermordet wurden. Wehrmachtverbände waren in dieses Morden einbezogen. Auch Karl von Roques un­terstützte Himmlers Schergen bei der systematischen Vernichtung der Juden. Er wandte sich allerdings grundsätzlich und in zahlreichen Einzelfällen energisch gegen die Teilnahme von Wehrmachtangehörigen an Ausschreitungen gegenüber der vorwiegend jüdischen Bevölkerung. Franz von Roques protestierte bei den Einsatzkom­mandos gegen Judenerschießungen, konnte letztlich jedoch Pogrome nicht verhin­dern, setzte aber die Wehrnacht scharf von diesen ab. Die Lösung der soge­nannten Judenfrage empfand Friderici nicht als moralische Belastungsprobe. Er hatte sich mit ihr schon als Wehrmachtbevollmächtigter in Böhmen und Mähren befasst und die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung empfohlen, da ihm „das radikale Mittel ei­ner physischen Ausrottung … unter normalen Umständen nicht möglich“ erschien, wie er den Chef des OKW, Wilhelm Keitel, wissen ließ (Zit. S. 552). In der besetzten Sowjetunion herrschten fürwahr auf Grund der definierten Kriegsziele keine norma­len Umstände und folglich erhob der General gegen das Massenmorden der SS keine Bedenken. Das galt auch für das Prinzip, bei Vergeltungsmaßnahmen gezielt Juden als Geiseln zu nehmen und auch durch Wehrmachteinheiten liquidieren zu lassen.

Die Berück besaßen nicht die absolute Macht in ihrem Distrikt. Sie unterstanden höheren militärischen Befehlsgebern und hatten im Spannungsfeld eines polykrati­schen politischen Systems differierende Interessen, z. B. zwischen den Reichsministe­rien für die besetzten Ostgebiete und für Ernährung, auszugleichen. Die Aushebung von Zwangsarbeitern für das Reich musste mit dem Wehrmachtbedarf vor Ort in Ein­klang gebracht werden. Eine bewusste Aushungerungspolitik hatte dort ihre Grenze, wo die Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung im Dienst der Besatzer aufrecht erhalten werden musste. Die angestrebte, lediglich vierjährige Schulzeit machte bis zur Arbeitspflicht mit 15, dann 14 Jahren, Jugendbetreuung notwendig und erschien daher fragwürdig.

Zusammen mit den Ergebnissen anderer Veröffentlichungen kann man sich nun ein detailliertes Bild von den desaströsen Existenzbedingungen der überlebenden Bevöl­kerung unter deutscher Herrschaft in der Sowjetunion machen. An der systematischen Ausrottung der Juden unter Mitwisser- und -täterschaft der oberen Wehrmachtfüh­rung besteht kein Zweifel mehr. Die Lebensraumstrategie wird in der Vielfalt ihrer Facetten deutlich. Ihre Protagonisten sind nicht nur in den Reihen der Nationalsozia­listen zu suchen, sondern es waren die konservativen Militäreliten, die den Wahnvor­stellungen eines Hitler und Konsorten im Weltmaßstab Realität zu verschaffen such­ten. Unser heutiger Wissensstand enthüllt die militärischen Memoiren über den Ost­feldzug als Selbstentschuldungsschriften. Die nach Maßgabe von Generalfeldmar­schall von Küchler verfertigten Gutachten der Generale in Gefangenschaft (Historical Division) besitzen ähnliche Qualität: „Es werden deutsche Taten, vom deutschen Standpunkt gesehen, festgelegt und dadurch unseren Truppen ein Denkmal gesetzt“ (Zit. S. 132). Die Uneinsichtigkeit der Berück in ihr menschenverachtendes Unrechts­treiben lässt sich nur mit Hasenclever als „moralische Deformation“ (S. 558) erklä­ren, indem er Franz von Roques im Jahre 1951 zitiert: „Wenn man einen Vergleich mit den Maßnahmen der Sieger in Deutschland nach 1945 und unseren im Heeresge­biet Nord anstellt, so muss man feststellen, dass wir weit großzügiger verfahren sind und viel weniger in die private Sphäre der Bevölkerung eingegriffen haben als jene und wenn, dann geschah es unter der harten Notwendigkeit des Krieges“. (Zit. ebd.) Sein Vetter Karl von Roques schrieb als Häftling in Nürnberg: „Die Anklagebehörde hat 1500 Dokumente uns 12 Angeklagten vorgelegt … (Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit), obwohl jeder von uns nichts weiter getan hat, als seine Pflicht“ (S.105). Die Pflicht zum Verbrechen?

Hans-Erich Volkmann, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Hans-Erich Volkmann über: Jörn Hasenclever: Wehrmacht und Besatzungspolitik in der Sowjetunion. Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete 1941–1943. Paderborn [usw.]: Ferdinand Schöningh, 2009. = Krieg in der Geschichte, 48. ISBN: 978-3-506-76709-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Volkmann_Hasenclever_Wehrmacht_und_Besatzungspolitik.html (Datum des Seitenbesuchs)

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