Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 344-346

Verfasst von: Kristin Vardi

 

Lou Bohlen: Politik der Erinnerung. Die umstrittene Erinnerungskultur russischsprachiger Migranten in Israel 1989–2000. Göttingen: Wallstein, 2014. 366 S. ISBN: 978-3-8353-1291-3.

Sie trägt pinke Trainingshosen, ein viel zu kurzes T-Shirt, ihr Bauch ist gepierct, und mit einem eindrucksvollen Tattoo hat sie ihre Aufmachung abgerundet. Sie schlurft gelangweilt durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Va­shem und gibt sich ihrem Handy hin. Offenbar ein Kind russischsprachiger Einwanderer, so mutmaßt Bohlen.

Mithilfe dieses feuilletonistischen Einstiegs führt Lou Bohlen den Leser zielsicher zum Thema ihrer Promotionsschrift: den Unterschied von Geschichts- und Erinnerungskulturen bestimmter Bevölkerungsgruppen Israels, mit dem Bohlen die akademische Erklärung für ihre Mutmaßung bezüglich der Herkunft des unbeeindruckten israelischen Teenagers liefert. In ihrer knappen Einleitung benennt Bohlen die Analyse der Interaktion zwischen den beiden auf sehr unterschiedliche Weise hochgradig normativ aufgeladenen Erinnerungs- und Geschichtskulturen, der (post-)sowjetischen und der israelischen, als grundlegendes Interesse ihrer Studie. Betreuer dieser Promotion waren Lucian Hölscher und Moshe Zuckermann. Bohlen hat ihre Arbeit als Beitrag zur Migrationsforschung angelegt. Anders als die bereits zahlreich existierenden, soziologisch orientierten Schriften zur Migration sowjetischer und postsowjetischer Juden, leistet Bohlen diesen Beitrag in Form einer qualitativen Studie, die versucht, die Erinnerungskultur der jüngsten großen russischsprachigen Migrationswelle nach Israel zu beschreiben.

Betitelt hat Bohlen das Resultat ihrer ausgiebigen Presselektüre mit „Die umstrittene Erinnerungskultur der russischsprachigen Migranten in Israel 1989 bis 2000“. Allerdings eher beiläufig präsentiert sie eine Antwort auf die Frage: bei wem umstritten und warum? Denn Bohlens Untersuchung ist im Gegenteil auf jene fokussiert, die diese streitbare Erinnerungskultur forcieren. Bohlen schaut auf diejenigen, die eine Erweiterung, wenn nicht gar eine Neugewichtung, von „Erinnerung“ in Israel einfordern, indem sie sich einem ausschließlichen und beinah sakralisierten Holocaustgedenken verweigern. Bohlen thematisiert damit auch jene, die sich entgegen dem zionistischen Diktum (es kann kein jüdisches Leben in der Diaspora geben) erlauben, ‚ihren‘ Diaspora-Begriff mit positiv nostalgischen Rückbezügen auf das verlassene Heimatland zu besetzen.

Im Zentrum ihrer Analyse stehen eben jene mehr als eine Million russischsprachiger Einwanderer, die seit der Entstehung der äußerst unruhigen und unsicheren Verhältnisse in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion seit dem Ende der 1980er Jahre zunehmend die Erfahrung von sozialer Exklusion und existenzieller Bedrohung machten. Erfahrungen, welche die Juden der Sowjetunion und späteren GUS auf der Grundlage des Rückkehrgesetzes schließlich zur Einwanderung nach Israel bewegten.

Stellvertretend für viele fragt in einem Leserbrief einer russischsprachigen Zeitung einer von jenen Einwanderern in Israel schließlich offenbar orientierungslos: „Wer sind wir, die wir nach Israel gekommen sind, wohin sind wir gekommen und wohin wollten wir?“

Bohlen hat sich mit „Selbst- und Fremdbildern osteuropäischer Juden im Spiegel jüdischer Zeitschriften seit 1900“ bereits im Rahmen ihrer Magisterarbeit beschäftigt. Dem Ansatz der Annäherung an (Fremd- und) Selbstzuschreibungen über die Auswertung von Presserzeugnissen bleibt Bohlen treu. Ergänzt allerdings hat sie das Material der Artikel und Leserbriefe der in Israel erscheinenden russischsprachigen Tageszeitungen Novosti Nedeli (zitiert wird aus den Jahrgängen von 1990 bis 2000) und Vesti (1992–2000) diesmal durch dreiunddreißig Interviews, die sie in den Jahren 2004 und 2005 mit russischsprachigen Migranten in Israel geführt hat.

Auch den Umgang mit den Begriffen Heimat und Diaspora innerhalb der russischsprachigen Einwanderergemeinde hat Bohlen schon zu einem früheren Zeitpunkt in dem Magazin Medaon (7/2010) beleuchtet. Dabei hatte sie bereits deutlich machen können, dass ein positiver Rückbezug auf die Diaspora innerhalb der Gemeinschaft der israelischen Juden, die aus der SU/GUS zuwanderten, durchaus nicht unüblich ist.

Das bedeutet auch: Während in Israel die Shoah und die Opfererfahrung erinnert wird, war es in der Sowjetunion üblich, des Sieges der „heldenhaften sowjetischen Armee über den menschenverachtenden Krieg des Hitlerfaschismus“ zu gedenken. Ein dezidiert jüdisches Gedenken an die dezidiert antisemitisch motivierten Morde der Nationalsozialisten war in der Sowjetunion hingegen nicht vorgesehen. Beispielhaft nennt Bohlen hier die Massenerschießung in Babij Jar im September 1941. Ein Großteil der 150.000 Ermordeten waren Juden. Wegen des Erinnerungstabus wird das Wort Jude auf der Gedenktafel aber nicht einmal erwähnt. Eine auf die Shoah fokussierte Erinnerung bzw. eine grundlegende Aufarbeitung der persönlichen und familiären Erfahrungen wurde den Juden aus der Sowjetunion folglich erst in Israel möglich. Trotz der Migration in einen anderen Erinnerungsraum sind die Erinnerungen an den „Großen Vaterländischen Krieg“ innerhalb der russischsprachigen Einwanderergemeinschaft in Israel aber nach wie vor sehr präsent, so Bohlen.

Die Autorin deckt mithilfe zahlreicher Belege anschaulich dieses Nebeneinander zweier konkurrierender Erinnerungen und Diskurse in Israel auf. Dabei steht auf der einen Seite die aus der Sowjetunion ‚importierte‘ Erinnerung an Siege, Mut, Wehrhaftigkeit, Kampf, Helden und an hoch dekorierte Veteranen, verbunden mit der Überzeugung, die israelische Aufnahmegesellschaft sei letztlich allein der Rettung der Juden durch die Rotarmisten aus den KZs zu verdanken. Dem steht in Israel eine Erinnerung an die jüdischen Opfer der Shoah gegenüber mit nur sehr zaghaften Gesten der Dankbarkeit für den Kampf und den Sieg des „sowjetischen Volkes“ über den „Faschismus“. Denn der Blick auf die Shoah und der politische Umgang mit ihr gehören in der israelischen Gesellschaft als alles beherrschende Erinnerung unlösbar zum Kernthema der Verhandlung von Identität und Zugehörigkeit, ein Umstand, der für die russischsprachigen Einwanderer vielerlei Identitätskonflikte birgt.

Die Autorin belegt ihre These von der Konflikthaftigkeit des Aufeinandertreffens verschiedener jüdischer Erinnerungen und Identitätskonzepte mit zahlreichen Beispielen aus der russischsprachigen jüdischen Presse und mithilfe von Interviewpassagen. Dabei, und auch durch inhaltliche Überschneidungen, welche sich in mehreren Abschnitten ereignen, kommt es nicht selten zu Redundanzen, über die man aber aufgrund des sehr angenehmen Schreibstils gern hinweg sieht. Bohlens Analyse ist auch für einen nicht-akademischen Leserkreis verständlich konzipiert und erhält durch die konsequent dialektische Struktur der Kapitelanordnung den Spannungsbogen bis zum Ende aufrecht.

Für ihre Interviews hat sich Bohlen Probanden aus einem weiten Feld vom Greisenalter bis zum Geburtenjahrgang 1980 ausgewählt. Interessant wäre zu erfahren gewesen, wie und ob heute auch die Kinder jener Einwanderer, die in Israel geboren worden, das von Bohlen untersuchte Aufeinandertreffen der verschiedenen Erinnerungsnarrative erleben, nicht zuletzt wo Bohlen eine israelische Halbwüchsige mit russischsprachigem Hintergrund als den Aufhänger ihrer Einleitung gewählt hat.

Fazit: Bohlens These vom Erinnerungs- und Identitätenclash innerhalb einer Integrations- und Einwanderergesellschaft ist sicherlich wenig bahnbrechend. Mit ihrer Frage nach der Erinnerung und Identität von russischsprachigen Einwanderern erweitert Bohlen aber das rege bestellte Forschungsfeld von Erinnerung, Identität und politischer Funktionalisierung in Israel um den besonders interessanten Aspekt des postsowjetischen Heldengedenkens inklusive des Retter- und Befreiernarrativs gegenüber dem Opferkonzept des israelischen Gedenkens. Bohlen verweist mit ihrer Forschung einmal mehr auf einen neuralgischen Punkt innerhalb der israelischen Gesellschaft, nämlich die hierarchisierte Identität und Erinnerung und die Bedeutung der Shoah für die israelische Gesellschaft, über die Doron Kiesel bereits 1990 schrieb. Sehr lesenswert!

Kristin Vardi, Leipzig

Zitierweise: Kristin Vardi über: Lou Bohlen: Politik der Erinnerung. Die umstrittene Erinnerungskultur russischsprachiger Migranten in Israel 1989–2000. Göttingen: Wallstein, 2014. 366 S. ISBN: 978-3-8353-1291-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Vardi_Bohlen_Politik_der_Erinnerung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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