Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 3, S. 525-526

Verfasst von: Sigita Urdze

 

Magdalena Solska: Die Systemkrise des Kommunismus und die Entwicklung der Parteiensysteme in Estland, Lettland und Litauen 1988–2011. Nationale Identität, Cleavage-Politik und Parteienwettbewerb in Nordosteuropa. Berlin, Münster: LIT, 2013. 318 S., 21 Tab., 3 Abb. = Osteuropa, 7. ISBN: 978-3-643-12288-9.

Mit ihrem Buch bewegt Magdalena Solska sich in einem spannenden Themenfeld, das in vergleichender Perspektive oft leider nur wenig Beachtung erfährt: Sie stellt nicht nur Entwicklungen in den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen dar, sie beschreibt auch die Unterschiede dabei und fragt nach den Ursachen dafür. Solskas Kernfrage lautet: „Warum haben sich trotz der ähnlichen Ausgangsbedingungen die Parteien und Parteiensysteme in Estland, Lettland und Litauen unterschiedlich entwickelt?“ (S. 13) Die Hauptthese lautet: „Die während der Systemkrise des Kommunismus manifest gewordene Konfliktlinie (Cleavage) zwischen Kommunismus und Antikommunismus wurde in Litauen ideologisch und in Lettland und Estland ethnisch geprägt. Die entlang dieses Konfliktes entstandene Konstellation der politischen Parteien wurde ‚eingefroren‘, weshalb sie bis heute die Parteiensysteme in Estland, Lettland und Litauen prägen kann.“ (S. 14)

Solska geht die Beantwortung ihrer Frage mit Hilfe des „most similar systems design“ in qualitativer Form an (S. 14 ff.). Während sie die Wahl der qualitativen Vorgehensweise überzeugend erklärt (S. 1516), ist die Behandlung der baltischen Staaten im Rahmen eines „most similar systems design“ kritisch zu betrachten. Die drei baltischen Staaten sind keineswegs so homogen, wie dies – vor allem westlichen Betrachtern – häufig erscheint. Auch Solska selber macht an verschiedenen Stellen deutlich, dass z. T. erhebliche Unterschiede zwischen den drei Staaten bestehen (vgl. z. B. S. 87 ff.).

Ein weiteres methodisches Fragezeichen lässt sich hinter die von Solska stipulierte Generalisierbarkeit der Ergebnisse ihrer Untersuchung im Hinblick auf andere ehemalige Sowjetrepubliken setzen (S. 1516). Wie Solska eingangs von Kapitel III kenntnisreich darstellt, durchlebten Estland, Lettland und Litauen zwischen den beiden Weltkriegen eine Phase der Unabhängigkeit, in der sie als demokratisch verfasste Republiken entwickelte Parteiensysteme hatten. Dieser Aspekt unterscheidet die drei Staaten erheblich von anderen ehemaligen Sowjetrepubliken und gilt gemeinhin als ein Faktor für Erklärung für die höhere Geschwindigkeit und den größeren Erfolg der Transformationsprozesse, wie Solska ebenfalls in Kapitel III verdeutlicht (S. 65 ff.). Vor diesem Hintergrund wäre es unter Umständen sinnvoller gewesen, die Untersuchung gezielt als Fallstudie durchzuführen, ohne dabei Generalisierbarkeit anzustreben.

Insgesamt ist das Buch mit viel Sachwissen geschrieben. Der theoretische Teil in Kapitel II gibt einen guten Überblick über Typologien von Parteien und Parteiensystemen sowie über das Cleavage-Konzept einschließlich der Freezing-These. Kapitel III stellt „gün­stige Voraussetzungen für Demokratisierung“ dar und deckt dabei die Zeit vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1989 ab und behandelt zusätzlich die „Rückkehr nach Europa“ u. a. im Rahmen der NATO- und EU-Beitritte. In Kapitel IV, das sich mit der Systemkrise des Kommunismus und nationalen Besonderheiten der baltischen Staaten auseinandersetzt, gelingt es Solska, die Vielzahl der dabei zu beachtenden inhaltlichen Stränge systematisch und sachkundig darzustellen. In Kapitel V folgt eine Darstellung der Regierungssysteme und des Wahlrechts bevor sich die folgenden Kapitel der Untersuchung der unabhängigen Variablen widmen.

Kapitel VI befasst sich mit der Entwicklung der Parteiensysteme in den baltischen Staaten. Hier ist anerkennend hervorzuheben, dass Solska trotz der Vielzahl der Parteineugründungen, -umbenennungen und -zusammenschlüsse den Überblick nicht verliert. Für den der jeweiligen Sprachen kundigen Leser ist dabei allerdings Solskas Schreibweise der Parteinamen gelegentlich etwas irritierend (z. B. S. 125 ff.). In Kapitel VII stellt Solska die jeweiligen Cleavages dar und geht auf die These des Freezing ein. Kapitel VIII behandelt unter der Überschrift Staat als organisatorische Ressource der Parteien verschiedene strukturelle Merkmale der Parteien. In Kapitel IX schließlich geht die Autorin auf den elektoralen Wettbewerb und die Koalitionsbildung ein. Es folgt das Resümee. Dabei gelingt es Solska, überzeugend deutlich zu machen, dass trotz der Instabilität der Parteienlandschaft sich bestimmte Cleavages in den baltischen Staaten dauerhaft etabliert haben. Nach Solska ist dies in Estland und vor allem Lettland das ethnische Cleavage, das in Litauen allerdings auch eine gewisse Rolle spielt. Gleichwohl sei für Litauen das sozioökonomische Cleavage prägender (S. 271 ff.).

Solskas Buch überzeugt durch eine Vielzahl von Detailinformationen. Leider geht mit dem Detailreichtum gelegentlich eine gewisse Unschärfe der Darstellung einher. So schreibt Solska im Rahmen der Behandlung des Stadt-Land-Cleavages über die Zentrumspartei in Estland (Keskerakond), dass diese auf das „Wahlpotenzial für die nationalen politischen Kräfte“ zurückgreifen könne (S. 208). Dabei übersieht sie jedoch, dass gerade die Zentrumspartei in Estland das ethnische Cleavage bedient. Diese Partei hat ihre stärksten Erfolge im überwiegend von ethnischen Russen bewohnten Nordosten des Landes. Gelegentlich erscheint es auch so, als verliere Solska angesichts der Vielzahl der von ihr behandelten Details selber ein wenig den Überblick, so dass sie sich in widersprüchlichen Aussagen verstrickt. So schreibt sie auf S. 165: „Die zahlreichen Untersuchungen von ‚New Baltic Barometer Studies‘ beweisen […], dass die lokale Identität (Lebensort) für die ethnische Minderheit in Estland und Lettland wichtiger ist als die ethnische Identität.“ Hingegen berichtet sie auf S. 214 aus einer anderen Studie wie folgt: „Diese [Russen in Lettland] bezeichnen sich in erster Linie als Russen und erst an zweiter Stelle als ‚Russen, die in Lettland wohnen‘“.

Insgesamt handelt es sich bei der Arbeit von Magdalena Solska jedoch um ein lesenswertes Buch, das mit vielen interessanten Details beeindruckt und sich des interessanten Themas einer unterschiedlichen Entwicklung bei ähnlichen Startbedingungen annimmt. Solska gelingt es trotz einzelner Irrtümer und Fehlinterpretationen, eine Vielzahl von Aspekten auf übersichtliche und nachvollziehbare Art und Weise darzustellen. Daher stellt das Buch einen guten Einstieg in das Themenfeld der Parteien und Parteiensysteme in Estland, Lettland und Litauen dar.

Sigita Urdze, Darmstadt

Zitierweise: Sigita Urdze über: Magdalena Solska: Die Systemkrise des Kommunismus und die Entwicklung der Parteiensysteme in Estland, Lettland und Litauen 1988–2011. Nationale Identität, Cleavage-Politik und Parteienwettbewerb in Nordosteuropa. Berlin, Münster: LIT, 2013. 318 S., 21 Tab., 3 Abb. = Osteuropa, 7. ISBN: 978-3-643-12288-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Urdze_Solska_Systemkrise_und_Parteiensysteme_Estland_Lettland_Litauen_1988_2011.html (Datum des Seitenbesuchs)

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