Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 109-112

Verfasst von: Ralph Tuchtenhagen

 

The Clash of Cultures on the Medieval Baltic Frontier. Ed. by Alan V. Murray. Farnham [etc.]: Ashgate, 2009. XX, 394 S., 4 Abb., 3 Ktn. ISBN: 978-0-7546-6483-3.

Inhaltsverzeichnis:

http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a21_1/apache_media/Y95Y6PPGAFEV71Y49Q9U7RJYT6B5FP.pdf

 

Der Band untersucht die mittelalterlichen Kreuzzüge im heutigen Pommern, Finnland, Livland und Preußen. Er ist aus mehreren Tagungen in Leeds/UK hervorgegangen und setzt eine Vorgängerpublikation unter Murrays Herausgeberschaft aus dem Jahre 2001 fort (Crusade and Conversation on the Baltic Frontier, 1150–1500). Unter den Autoren befinden sich dieüblichen Verdächtigen, will heißen: Es sind die einschlägigen Experten aller Generationen aus dem im Übrigen recht übersichtlichen Forschungsfeld vertreten. Sie stammen namentlich aus Kanada, Dänemark, Estland, USA, Finnland, Großbritannien und Lettland. Sechs von ihnen waren schon an dem 2001 veröffentlichten Sammelband beteiligt. Die anderen wurden neu hinzugewonnen. Dabei bleibt es jedoch schade, dass nicht wenigstens jeweils ein schwedischer, deutscher und russischer Forscher mitgeschrieben haben, denn es waren neben Dänemark gerade deren Sprachgebiete, von denen die Kreuzzüge ausgingen und maßgeblich getragen wurden. Dieser Mangel wird einzig dadurch ausgeglichen, dass die schwedischen, deutschen und russischen Quellen und Forschungen zum Thema in fast allen Beiträgen berücksichtigt wurden.

Insgesamt umfasst der Sammelband 17 Aufsätze, verteilt auf fünf thematische Blöcke, die als Culture and Identity,Crusade and Mission“,Converting Landscapes, Converting Peoples,Catholicism and Orthodoxy,Warfare on the Baltic Frontier betitelt sind. Wie bei allen solchen Gliederungen handelt es sich um den Versuch, die individuellen, in ihrer Gesamtheit recht heterogenen Themen notdürftig zu bündeln und so etwas wie einen roten Faden zu spinnen. Die Lösung dieser vor allem dem Herausgeber gestellten Aufgabe ist unterschiedlich gut gelungen. Bisweilen passen die subsummierten Beiträge in die verordnete thematische Klammer; manchmal aber decken auch nur zwei der drei bis vier Texte das Thema ab, während die anderen Texte solitär bleiben.

Teil 1 (Culture and Identity) versammelt insgesamt vier Beiträge von Marek Tamm, Eva Eihmane, Andris Šnē und Philip Line. Tamm widmet sich der narrativen Integration der eroberten Landstriche in den christlichen Diskurs, wobei er das alte historiographische Dilemma betont, dass westliche Berichte und Darstellungen der baltischen Kreuzzugsgebiete eher etwas über die mentale Verfassung westlicher Autoren als über die beschriebenen Gebiete selbst aussagen. Ob es im Mittelalter so etwas wie Identität vor der Erfindung desneuzeitlichenKonzepts der Identität selbst überhaupt gibt, wie der Untertitel (A Clash of two Identities) suggeriert, bleibt auch nach der Lektüre von Eihmanes Text offen. Jedenfalls fällt es schwer nachzuvollziehen, wie die Autorin aus den inhaltlich ganz anders organisierten mittelalterlichen Quellen identitätsgenerierendes Denken und Handeln extrahieren will. Dieses macht sie einerseits fest an der jeweils unterschiedlichen historiographischen Aufarbeitung des Baltikums seit dem Mittelalter. Andererseits bemüht sie die alte, eigentlich eher von den Verfechtern eines angeblichenKulturträgertumsund von anderen Heilsaposteln verkündeten Thesen, dass die westlichen Eroberer den heterogenen Gemeinschaften der Kreuzzugsgebiete durch eine relative Einigkeit in den Zielen (mittelalterlich-christliches Denken, Mission, Unterwerfung, Hanse etc.) überlegen gewesen seien. Fraglich bleibt dabei, ob sich die Historiographie mehrerer Jahrhunderte auf eine einfach binäre Opposition vonVertreter des Baltikums hier, Eroberer des Baltikums dort“ festzurren lässt. Die Vermutung liegt nahe, dass die von der Baltikums-Historiographie referierterealhistorische‘ Welt doch um einiges bunter war, als uns Eihmane glauben machen will. Auch ob Einigkeit in Zielen und Handeln tatsächlich ein Faktor der Identitätsbildung war, wäre noch näher zu prüfen. Šnēs Beitrag über die Transformation sozialer und kultureller Strukturenauf dem Gebiet Lettlandsbehandelt ein zentrales Thema. Aber bringt er Neues? Typisch und bedauerlich jedenfalls ist die Beschränkung der Analyse auf das heutigelettischeStaatsterritorium, obwohl der Beitrag im Haupttitel verheißt, die emergence of Livonia zu erklärenwas ja mehr, nämlich auch Teile des heutigen Estland, umfassen würde. Diese ahistorische, aus der nationalstaatlichen Gegenwart gewonnene Retrospektive hilft uns bei der Analyse mittelalterlicher Entwicklungen leider nur teilweise weiter. Philip Lines Beitrag schließlich über Schwedens Eroberung von Finnland geht der Frage nach, ob es sich dabei um einenclash of culturesgehandelt habe. Ähnlich wie Šnē beginnt er mit einer meist nur archäologisch zu leistenden Analyse der Entwicklungen vor der Eroberung, um davon die Veränderungen nach der Eroberung abzuleiten. Methodisch heikel bleibt das Verfahren, archäologische und schriftliche Quellen aufeinander zu beziehen und daraus synthetische historiologische Urteile zu gewinnen. In einigen Fällen mag bezweifelt werden, ob dies gelungen ist. Von einemclash of cultureszu sprechen, ist angesichts der dürren Fund- und Quellenlage jedenfalls gewagt.

Teil 2 über Crusade and mission bietet eine durchaus gelungene Studie von Iben Fonnes­berg-Schmidt zur Kreuzzugspolitik Papst Honorius III., dessen Wirken in der Forschung bisher eher ein Schattendasein fristete. Sie zeigt insbesondere den Hintergrund der Mission und den Schutz der Konvertiten als Neuerungen in der kurialen Politik. Rasa Mažeika interpretiert die Chronik Peters von Dusburg und seinen Bericht über die Eroberung Prussiens. Sie deutet den Text als Legitimation der früheren preußischen Kreuzzüge und der aktuellenLitauenreisendes europäischen Kriegsadels in einer Zeit, als die Legitimation der Existenz des Deutschen Ordens wegen einer möglichen Integration Litauens in die europäische christianitas auf dem Prüfstand lag. Das ist nicht wirklich neu, aber im Rahmen einer quellenkritischen Untersuchung gut gemacht.

Teil 3 über Converting Landscapes, Converting Peoples greift in zwei Studien die dänisch-deutsche Wendenmission (Kurt Villads Jensen) bzw. das Verhältnis zwischen Dänemark und den konvertierten Liven (How to convert a landscapeCarsten Selch Jensen) auf. Insbesondere geht es den Autoren um den Prozess der Christianisierung durch Kirchen und Klöster und der Überschreibung (Zerstörung, Überbauung) der heidnischen Kultstätten mit neuen architektonischen Zeichensystemen. Eine ähnliche Thematik behandelt Tiina Kala, indem sie die Integration der baltischen Länder in die christianitas darstellt (auf dem Hintergrund ihrer eigenen früheren Forschung). Ihr geht es vor allem um die Taufe und das Ausmaß der Rezeption christlicher Ideen. Wie zu erwarten, wurde die Taufe oft eher als formaler Akt der politischen Integration denn der realen Glaubensveränderung angesehen. So jedenfalls legt es die Lektüre von Berichten nah, die das Überdauern heidnischer Vorstellungen und Praktiken bis ins 16. Jahrhundert konstatieren. Quellenkritisch wäre hier freilich zu bedenken, dass die Quellen in der Regel von Geistlichen stammen, die ihre eigenen Erwartungshaltungen auf die autochthone Bevölkerung projizierten. Was speziell den Beitrag von Jensen anbelangt, erfahren wir leider nichts darüber, was es in diesem Kontext mit dem Begrifflandscapeauf sich hat. Historisch gesehen, dürfte sich der Landschaftsbegriff erst in der Neuzeit herausgebildet habenin rechtlich-korporativer Hinsicht wohl mit der Entstehung von übergreifenden Adelskorporationen unter Schweden und Polen, in geomorphologischer Referenz ohnehin erst im 18. Jahrhundert. Anu Mänd schließlich untersucht in ihrem Aufsatz den Heiligenkult im alten Livland. Sie stellt fest, dass zwar der Marien-, Annen- und Nikolaus­kult deutlich erkennbar sind, sich aber keine regionalen Kulte mit Bezug zu den Kreuzzügen oder den frühen Bischöfen des Baltikums ausgebildet hätten. Mit der Frage, wie dies zu erklären ist, lässt sie den Leser allerdings allein.

Teil 4 über Catholicism and Orthodoxy bietet ein buntes Bild über das Verhältnis von westlicher und östlicher Kirche. Zum einen konstatiert Torben K. Nielsen den anti­orthodoxen Impetus Heinrichs von Livland und die faktische Verhinderung einer orthodoxen Mission in den baltischen und finnischen Gebietenob diese nun intendiert war oder nicht (was unklar bleibt). Michael Paul interpretiert den Bau der novgorodischen Festung Orechov als Verteidigungsbastion gegen die expandierende westliche Kirche und die deutschen und skandinavischen Kreuzfahrer. Anti Selart weist demgegenüber nach, dass die Orthodoxe Kirche im Herrschaftsgebiet der westlichen Kreuzfahrer tolerant behandelt wurde, obwohl die Propaganda aggressiv gegen die Orthodoxie als Lehrsystem gerichtet war. Leider erfahren wir in allen drei Beiträgen wenig von der Theologie der Orthodoxie und ihrer Haltung zur Mission überhaupt. Auch die Praxis eventueller orthodoxer Missionvon der mittelalterlichen bis zur modernen Propaganda oft alsGefahrdargestelltbleibt ausgespart.

In Teil 5 über Warfare on the Baltic Frontier deutet Allan V. Murray den Einsatz von Musikinstrumenten (Hörnern, Trommeln, Pfeifen) als Waffen der psychologischen Kriegsführung. Stephen Turnbull stellt eine Reihe der üblicherweise verwendeten Waffen vor und behandelt insbesondere das wissenschaftliche Problem, dass bei Heinrich von Livland unterschiedliche Bezeichnungen für Waffen auftauchen, die die Interpretation und Zuordnung von Begriffen und Referenzobjekten deutlichen erschweren. Kaspars Kļaviņš untersucht die Rolle der konvertierten Livländer in den Reihen der Kreuzzugsheere gegen Russen und Litauer, mit dem Ergebnis, dass die Christianisierung der autochthonen Bevölkerung zu neuen militärischen Allianzen führen konnte, die eine platte historiographische Gegenüberstellung von hier Balten – dort Nicht-Balten konterkariert.

Das Forschungsresultat dieses letzten Beitrags weist auf ein generelles Problem des Sammelbandes hin. Das ursprünglich politikwissenschaftliche, von Samuel Huntington popularisierteclash of cultures-Modell, das hier in der Variante einer Polarisierung von baltisch/nichtbaltisch präsentiert wird, ist wie bei Huntington aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gewonnen und taugt für eine Analyse hochmittelalterlicher Verhältnisse nur sehr bedingt. Die einfache, auf der Annahme binärer kultureller Oppositionen gründende Analyse geht von einem modernen nationalstaatlichen Schema aus, das andere, in den Quellen ebenfalls durchscheinende KonfliktlinienRitter versus Geistliche versus Kaufleute versus Handwerker, schwedische versus dänische versus deutsche Ritter, Katholiken versus Orthodoxe, Liven versus Esten versus Letten versus Litauer etc.sowie die vielfältigen historischen Allianzen zwischen verschiedenen ethnischen, religiösen und sozialen Gruppen verdeckt. Eine andere Frage bleibt, ob der frontier-Begriff dem Thema angemessen ist. Er entspringt immerhin einer Grundüberzeugung von der Migration einer Kulturgrenze, wenn nicht -mission im 19. und 20. Jahrhundert, die mit einer impliziten historischen Teleologie der Überlegenheit derweißenamerikanischen Zivilisation (Manifest Destiny, Erschließung des amerikanischen Kontinents from sea to shining sea“) getragen wird. Was dies mit den mittelalterlichen Kreuzzügen im Ostseeraum zu tun hat, müsste zumindest irgendwo diskutiert werdenwird es aber nicht. Diese beiden Bemerkungen zu begriffskonzeptionellen Problemen verweisen ihrerseits auf noch allgemeinere Probleme des Bandes bzw. der Forschung überhaupt: Die Archäologie und Historiographie zum Baltikum arbeitet mit Konzepten der christlichen bzw. postchristlichen Welt, mit Begriffen der Aufklärung, der modernen Historiographie, Politologie, Soziologie und Psychologie. Wie lassen sich diese Konzepte in die Vorstellungswelt des Mittelalters rückübersetzen? Wie finden wir Begriffe für das, was damals gedacht und geschrieben wurde? Die Sprache der Quellen und das Denken ihrer Autoren werden an vielen Stellen zwar genannt und analysiert. Die Frage einer (lexikalischen, semantischen und kontextuellen) Übertragung in die Sprache der Moderne, zudem ins Englische, eine Sprache, die nicht einmal in ihrer historischen Gestalt eine Sprache der Quellen ist und deren Wortschatz und Grammatik auf eine andere historische Wirklichkeit rekurriert als die der deutschen, dänischen, schwedischen und russischen Gebiete, bleibt aber vielfach ungelöst.

Was die äußere Form angeht, ist der Band gut ausgestattet. Er enthält eine relativ ausführliche Einleitung von Alan V. Murray mit Bemerkungen zur Genese und Intention der Beiträge sowie eine knappe inhaltliche Zusammenfassung. Weiter finden sich drei Karten und vier Abbildungen, eine Auswahlbibliographie und ein Namen- und Sachen-Index. Murray diskutiert zudem das Thema der historischen Benennungen und bietet eine Synopse der englischen, deutschen, schwedischen, estnischen, finnischen, russischen, lettischen, litauischen und polnischen Orts- und Landschaftsnamenallerdings mit zahlreichen Lücken, die nicht weiter erläutert werden. Trotz der ungelösten wissenschaftstheoretischen Fragen und einiger kleinerer Mängel bereichert der Band unsere Kenntnis des mittelalterlichen Kreuzzugsgebiets im Ostseeraum um zahlreiche wichtige Aspekte. Einige Themen erscheinen sogar in völlig neuem Licht, so dass eine mediävistische Ostseewissenschaft künftig ohne die von Murray herausgegebenen Beiträge nicht auf dem aktuellen Forschungsniveau betrieben werden kann. Das Sammelwerk sei der Forschung also wärmstens empfohlen.

Ralph Tuchtenhagen, Berlin

Zitierweise: Ralph Tuchtenhagen über: The Clash of Cultures on the Medieval Baltic Frontier. Ed. by Alan V. Murray. Farnham [etc.]: Ashgate, 2009. XX, 394 S., 4 Abb., 3 Ktn. ISBN: 978-0-7546-6483-3., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Tuchtenhagen_Murray_The_Clash_of_Cultures.html (Datum des Seitenbesuchs)

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