Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 644-646

Verfasst von: Ekaterina Tsimbaeva

 

Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa. Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Marija Wakounig / Wolfgang Mueller / Michael Portmann unter redaktioneller Mitwirkung von Anita Biricz / Andreas Rathberger / David Schriffl. Berlin, Münster, Wien [usw.]: LIT, 2010. 702 S. ISBN: 978-3-643-50241-4.

Das vorliegende Buch stellt eine Festschrift dar, welche von Kollegen und Schülern des Professors am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien Arnold Suppan zu seinem 65. Geburtstag vorbereitet und in ansprechender Form herausgegeben worden ist. Der Jubilar ist ein angesehener Fachmann auf dem Gebiet der osteuropäischen und südosteuropäischen Geschichte und Initiator und Leiter mehrerer großer Forschungsprojekte. Die Aufsätze der Festschrift spiegeln thematisch und chronologisch die Bandbreite und die Vielseitigkeit seiner wissenschaftlichen Interessen wider. Als Autoren firmieren Historiker, Politologen, Sprach- und Kulturwissenschaftler sowie Literaturhistoriker. Mit insgesamt 38 Beiträgen sind am Sammelband sowohl österreichische Kollegen und Kolleginnen, vor allem von der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, als auch Wissenschaftler aus Prag, Bratislava, Budapest, Paris und einigen US-amerikanischen Universitäten beteiligt.

Das thematische Spektrum des Sammelbandes ist sehr vielfältig. Es wird die Geschichte der Außenpolitik Österreichs, Österreich-Ungarns sowie einiger mitteleuropäischer und Balkan-Staaten thematisiert; auch Ergebnisse von Forschungen zur Militärgeschichte und über die Beziehungen der Nationalitäten sind vertreten. Ein besonderes Kapitel unter dem Titel Menschen bilden die Beiträge über einzelne Personen wie Fr. Palacký, Th. Herzl, K. Kramář u.a. L. Velek, der Autor des Aufsatzes über K. Kramář, verwendet bei seiner Betrachtung der Persönlichkeit und der Tätigkeit des tschechischen Politikers einen originellen Ansatz, indem er den Faktor Ehefrau einbezieht und sich der Ehe zwischen Kramář und der Russin N. N. Abrikosova zuwendet. Wertvolle Materialien werden von G. Kastner in einem anderen Aufsatz dieses Abschnitts behandelt, der sich mit der antifaschistischen Thematik im amerikanischen Film während des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt. Kastner erforscht die US-Propaganda gegen die Nationalsozialisten und die Rolle, die dabei die Regisseure und Schauspieler aus Mitteleuropa spielten, die in den dreißiger und vierziger Jahren in Hollywood tätig waren.

Formell in fünf thematische Abschnitte gegliedert, sind alle Beiträge doch letztendlich dem einen Generalthema gewidmet, das im Sammelbandtitel genannt wird, und sie knüpfen alle an die Erforschung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des osteuropäischen Raums an.

Der Sammelband spiegelt zweifelsohne den heutigen Stand der Forschung wider und er weist auf bisherige Erfolge, bestehende Forschungslücken und die Richtungen künftiger Forschung hin. Eine allgemeine kritische Anmerkung gilt für die meisten Beiträge, dass die Autoren nämlich die aktuelle wissenschaftliche Literatur aus Osteuropa kaum zur Kenntnis nehmen oder sie einfach nicht kennen. Dabei sind die osteuropäischen Forscherinnen und Forscher gerade auf dem Gebiet der nationalen Beziehungen besonders produktiv, und eben auf diesem Arbeitsfeld könnte eine wissenschaftliche Kooperation höchst nutzvoll und fruchtbar sein.

Das lässt sich gut am Beispiel der Aufsätze von E. Vyslonzil und W. Mueller aufzeigen. Die Autoren bringen die russische Suche nach einer nationalen Idee entsprechend dem Verständnis der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Nationalität mit der gesamteuropäischen Zerrissenheit zwischen Romantik und Historismus in Zusammenhang. In diesem Kontext verdient das breite Quellenmaterial besondere Erwähnung, das M. Wa­kou­nig in ihrem Beitrag Die drei Kronen Ostmitteleuropas erschließt. Die Autorin verfolgt die Transformation der symbolischen Bedeutung der Kronen Ungarns, Böhmens und Polens vom 15. bis zum 20. Jahrhundert, die Rolle dieser Symbole bei der Entstehung nationaler Identitäten und bei der Erhaltung oder Neuschaffung der jeweiligen nationalstaatlichen Idee. Diese Entwicklungen werden vor dem Hintergrund der großen europäischen Politik analysiert, was die Schlussfolgerungen M. Wakounigs besonders fundiert macht.

Die erwähnte mangelhafte Kenntnis der Arbeiten der osteuropäischen Kollegen betrifft keinesfalls A. Kappeler, der die Darstellung des österreichischen Galizien in den heutigen ukrainischen Schulbüchern analysiert. Er betont, dass die modernen Schulbücher legitimatorische Funktionen für die ukrainische Nation und den jungen ukrainischen Nationalstaat erfüllen, und fügt mit Recht hinzu:Der Ethnozentrismus führt allerdings auch zur Ausblendung wichtiger Bereiche der Geschichte.“ (S. 161) Diese Bemerkung betrifft auch andere Beiträge in der Festschrift: etwa Die karpatendeutsche Identität im Kraftfeld der mitteleuropäischen Politik 1918–1945 (D. Kováč) oder Balkanromanität: Perspektive der Forschung (M. D. Peyfuss).

Eine gewisse Diskrepanz zwischen dem breiten vorhandenen Quellenbestand und dem engen thematischen Interesse der Verfasser zeichnet auch einige andere Beiträge aus: etwa diejenigen über die rumänische Nationalbewegung (O. J. Schmitt), über die Krise in Bosnien-Herzegowina 1991/1992 (P. Dragišič), über muslimische Gemeinschaften in Südosteuropa in der Gegenwart (V. Heuberger) und über das Phänomen der Massenuniversität in Österreich (E. Bruckmüller).

Ein Extremfall der entgegengesetzten Art stellt der Aufsatz von N. Naimark über The Killing Fields of theEast: Three Hundred Years of Mass Killing in the Borderlands of Russia and Poland dar. Der Autor konstruiert ein höchst vereinfachtes Schema der ethnischen Konflikte in Osteuropa, vorwiegend im Gebiet des heutigen Polens und der Ukraine und ignoriert dabei komplexe politische und soziale Prozesse, die dort im Laufe von drei Jahrhunderten verliefen, was nur teilweise dadurch erklärt werden kann, dass er die Fülle der Forschungsliteratur über diese Prozesse außer Acht lässt.

Vor dem Hintergrund des heutigen Forschungsstands muss man einräumen, dass die Erarbeitung einer Faktenbasis und deren methodisch, theoretisch und begrifflich abgesicherte Analyse auf dem Forschungsfeld von Nation, Nationalitäten und Nationalismus zwar ein aktuelles Desiderat sind, das allerdings zumindest teilweise wohl erst in der Zukunft eingelöst werden kann. Zweifellos hat H. P. Hye Recht, wenn er pathetisch die unbedingte Notwendigkeit der Geistes- und Geschichtswissenschaften betont (S. 17); jedoch bleibt sein Beitrag insgesamt tatsächlich nicht mehr als die von ihm angekündigte essayistische Annäherung.

Ebenfalls unbestritten ist die Richtigkeit des Aufrufs von M. Portmann:Es gehört zu den hehren Aufgaben und vornehmen Pflichten des Historikers, der Degeneration von Geschichtswissenschaft hin zur Geschichtspolitik entgegenzutreten.“ (S. 46) Doch folgt ihm F. Glatz kaum, wenn er in seinem Beitrag über die Zukunft von Staat und Nation in Osteuropa und über die mögliche Zukunft der europäischen, staatsbürgerlichen und nationalen Identitäten schreibt (S. 171). Hier findet man eine zweifelhafte Vermischung von Begriffen, mit denen Forscher äußerst präzis umgehen sollten. Das gilt auch für den Aufsatz von G. B. Cohen Citizenship and Nationality in Late Imperial Austria, in dem imperiale Loyalität oder deren Fehlen bei unterschiedlichen ethnischen Gruppen untersucht wird, was jedoch keinesfalls deren gegebenenfalls radikalen nationalen Bestrebungen erklären kann. Als ob die theoretische Ungleichmäßigkeit des Sammelbandes noch verschärft werden sollte, behandelt der Beitrag von A. Kohler die Eroberungsideologie desweißen Mannes“, was sich weit vom Gesamtthema der Festschrift entfernt.

Selbstverständlich sind diejenigen Artikel vom besonderen Interesse, die ein optimales Gleichgewicht zwischen theoretischen Konzepten und dem konkreten historischen Material finden und dabei direkt nationale Beziehungen erforschen. Dazu zählen zweifelsohne die Beiträge von O. Rathkolb Kultur und Nationalitätenkonflikt in Österreich 1918: davor/danach (im Inhaltsverzeichnis wird der Titel falsch genannt) und R. Lein Sterbich in Polen…“ Strategische und taktische Vorbedingungen der Kriegsführung an der österreichisch-ungarischen Nordostfront 1914. Einen sehr überzeugenden Eindruck macht die von K. Bachmann vorgenommene Sichtung der Quellen in seinem Beitrag über die Kollaboration in Polen während des Zweiten Weltkrieges. Er widerlegt die weitverbreitete Vorstellung von Polen als einem Land ohne Kollaborateure, obgleich er dabei den BegriffKollaboration“ zu weit deutet. Mit Erfolg geht A. Ivaniševič die schwierige Frage derserbokroatischen“ Sprache in den kroatisch-serbischen Beziehungen vor der Entstehung Jugoslawiens an.

Eine besondere Erwähnung verdient der Artikel von C. Horel Wem gehört die Stadt? Multikulturalismus versus Magyarisierung am Beispiel dreier Städte Transleithaniens 1880–1914. Die Autorin bedient sich statistischer und soziologischer Daten und betrachtet, am Beispiel dreier Städte, die heute nicht mehr zu Ungarn gehören, sondern zur Slowakei (Bratislava), zu Serbien (Subotica) und zu Rumänien (Arad), unterschiedliche Modelle, unterschiedliches Tempo und doch letztendlich den gemeinsamen Misserfolg des Magyarisierungsprozesses, der den traditionellen ostmittel- und südosteuropäischen Multikulturalismus nicht überwinden konnte. Der Aufsatz C. Horels ist sowohl ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, die bei der Erforschung nationaler Probleme entstehen, als auch ein Beleg dafür, dass sie mit rein wissenschaftlichen Methoden zu bewältigen sind.

Ekaterina Tsimbaeva, Moskau

Zitierweise: Ekaterina Tsimbaeva über: Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa. Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Marija Wakounig / Wolfgang Mueller / Michael Portmann unter redaktioneller Mitwirkung von Anita Biricz / Andreas Rathberger / David Schriffl. Berlin, Münster, Wien [usw.]: LIT, 2010. 702 S. ISBN: 978-3-643-50241-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Tsimbaeva_Wakounig_Nation_Nationalitaeten_und_Nationalismus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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