Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 2, S. 327-329

Verfasst von: Dimitri Tolkatsch

 

Getman P. P. Skoropadskij. Ukraina na perelome. 1918 god. Sbornik dokumentov. Otv. red. i otv. sost. O. K. Ivancova. Moskva: Rosspėn, 2014. 1087 S., 15 Abb., Tab. ISBN: 978-5-8243-1852-4.

Die Zeit des Hetmanats von Pavlo Skoropadskyj gerät immer wieder in den Mittelpunkt des historiographischen Interesses. Nur selten handelt es sich dabei aber um russische Forscher. Die Herausgeber des vorliegenden Quellenbandes haben sich allerdings zum Ziel gesetzt, das Thema nun auch auf die Agenda russischer Historiker zu setzen.

Die gesammelten Dokumente beleuchten die Zeit des Hetmanats ausschließlich im Rückblick. Der Band besteht aus zwei ungleichen Teilen, sowohl was den Umfang als auch was die Art der Quellen betrifft. Im ersten Teil werden Auszüge aus 14 Memoiren von Ministern, Vizeministern, Provinzgouverneuren und anderen Vertretern der obersten Regierungskreise veröffentlicht, die in der Emigration verfasst wurden. Dreizehn davon stammen aus den Beständen des Staatsarchivs der Russischen Föderation (GARF) in Moskau. Der zweite, wesentlich kleinere Teil besteht aus Dokumenten der Untersuchungskommission des Direktoriums der Ukrainischen Volksrepublik (UNR), die die mutmaßlichen Verbrechen des Regimes gegen die ukrainische Unabhängigkeit untersuchen sollte, darunter Verhörprotokolle von zehn Ministern bzw. Vizeministern. Diese Quellen (und eine aus dem ersten Teil) stammen aus dem Zentralen Staatsarchiv der Obersten Macht- und Verwaltungsorgane der Ukraine (CDAVO) in Kiew.

Sowohl in der Ukraine als auch in Russland fällt die Geschichtswissenschaft nur allzu oft der Geschichtspolitik zum Opfer, was das vorliegende Buch leider bestätigt. Bereits im Vorwort des ehemaligen ukrainischen Bildungs- und Wissenschaftsministers Dmytro Tabačnyk, das er offenbar noch vor den Evromajdan-Protesten verfasst hat, wird der Leser damit konfrontiert. Es ist nicht nur zutiefst polemisch, sondern erklärt auch unumwunden, dass mit dem Band politische Ziele verfolgt werden: Durch historische Parallelen soll die auf Russland ausgerichtete Politik des damaligen Präsidenten der Ukraine Viktor Janukovyč verteidigt werden. Durch die Wertung der Zentralrada als demokratisch nicht legitimiertes Ergebnis einer „Flurverschwörung der Führung einiger politischer und kulturologischer Organisationen, Vereine und Gesellschaften“ versucht Tabačnyk die „Orangene Revolution“ von 2004/2005 zu diskreditieren, mit der er sie auf eine Stufe stellt (S. 8). Darüber hinaus enthält der Text viele faktische Fehler, auf die hier aus Platzmangel nicht eingegangen werden kann. Gegen Ende des Vorwortes zieht Tabačnyk ganz ausdrücklich eine Linie von der prorussischen Ausrichtung des Hetmanats zur Annäherung der Ukraine an die von Russland angeführten Eurasische und Zollunion (S. 21).

Die vom Leiter der russischen Archivagentur Andrej Artizov und von Olga Ivancova stammende Einleitung liefert den historischen Kontext der Quellen, beschreibt den ukrainischen und russischen Forschungsstand zum Hetmanat und erklärt die Herkunft und Auswahl der Quellen. Leider gelingt es auch hier den Autoren nicht, wertende Beschreibungen der ukrainischen Nationalbewegung und des Hetmanats zu vermeiden. Die ukrainische Nationalbewegung beschreiben sie dabei als eine Art Projekt der Mittelmächte (S. 23–24, 32) oder als chauvinistische, stets gegen Russland gerichtete Bewegung (S. 30). Das Hetmanat war den Autoren zufolge der Versuch einer „gesellschaftlichen und politischen Restauration“ (S. 29), zugleich aber ein „liberal-demokratisches“ Regime (S. 31), was nicht recht zusammenpassen will. Auch macht die wiederholte Nutzung des im Russischen verächtlich klingenden Begriffs „samostijnyj“ im Zusammenhang mit der ukrainischen Nationalbewegung und das ausgiebige unkritische Zitieren Skoropadskyjs und seiner Mitstreiter neben einigen faktischen Fehlern den Autoren keine Ehre.

Ironischerweise wird die insgesamt positive Bewertung der Politik Skoropadskyjs durch Tabačnyk, Artizov und Ivancova von den gesammelten Memoiren in Frage gestellt. Deren Autoren zeichnen das Bild eines Staatsapparats, der kaum fähige Fachkräfte mobilisieren konnte und in dem die meisten Stellen mit ungeeigneten und bestenfalls mittelmäßigen Personen besetzt waren, deren ineffektive Arbeit zudem von Intrigen und durch Einmischung der Besatzungsmächte behindert wurde.

Alle Autoren schreiben höchst subjektiv; besondere Aufmerksamkeit richten sie auf die Schilderung anderer Vertreter des Hetmanats und des Hetmans selbst, der Intrigen zwischen ihnen sowie der Intrigen der deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzungsmächte, deren Ziel es offenbar war, Russland nachhaltig aufzusplittern und so weit wie möglich zu schwächen. Die ukrainische Nationalbewegung und die Bolševiki erscheinen den Memoirenschreibern als Produkte der Mittelmächte. Man erfährt mal mehr, mal weniger über deren eigentliche Tätigkeit in ihren Ressorts; die Lage im Land wird nur am Rande beleuchtet. Dafür geben die Memoiren einen hervorragenden Einblick in die Ansichten der russischen antiukrainisch orientierten Kreise in der Ukraine. Sie zeigen auch, wie die großrussisch gestimmten Emigranten ihre Mitwirkung am ukrainischen Staat vor der russischen Emigrationsöffentlichkeit zu rechtfertigen versuchten. So ist z.B. die Argumentation überaus beliebt, die Ukraine habe als Stützpunkt für eine Befreiung des von den Bolševiki kontrollierten Großrusslands dienen und danach wieder Teil des geeinten Russlands werden sollen. Außerdem zeigen die Memoiren die Haltung oder vielmehr die Abneigung großrussisch orientierter liberaler und konservativer Kreise gegenüber der ukrainischen Nationalbewegung. Die Sprachenfrage nimmt einen wichtigen Platz ein, unabhängig davon, welchem Ressort der jeweilige Autor angehörte. Die ukrainische Sprache wird gern als künstlich und aus Österreich importiert beschrieben (im Gegensatz zum „kleinrussischen Dialekt“); das Bestehen auf deren Verwendung gilt als Zeichen von radikalem Chauvinismus. Diverse Ausdrucksformen der ukrainischen Staatlichkeit werden als operettenhaft beschrieben, insbesondere wenn es um Uniformen geht. Wie so oft sagen die Memoiren über ihre Autoren selbst mehr aus als über die beschriebenen Ereignisse.

Die Verhörprotokolle im zweiten Teil bieten einen anderen Blick auf die Tätigkeit der Minister des Hetmanats. Da es den Betroffenen diesmal darum ging, ihre Tätigkeit vor dem Direktorium zu rechtfertigten, bemühten sie sich um eine unverfängliche bzw. positive Darstellung ihrer Tätigkeit und des Hetmanats aus der Sicht der ukrainischen Staatlichkeit. Außerdem kommen hier auch die ‚ukrainophilen‘ Minister des kurzlebigen zweiten Kabinetts zu Wort.

Die Herausgeber haben sich alle Mühe gegeben, die Quellendokumente möglichst genau wiederzugeben. In der Einleitung finden sich Informationen zu deren Form und Entstehungsgeschichte. Alle von den Verfassern selbst vorgenommenen Änderungen, beispielsweise Durchstreichungen oder Randnotizen, sind detailliert angegeben, bis hin zum verwendeten Schreibwerkzeug und dessen Farbe. Ukrainische oder zweisprachige Dokumente sind in der Originalsprache und in russischer Übersetzung abgedruckt. Im reichhaltigen Anmerkungsapparat werden die für das Verständnis der Epoche wichtigen Begriffe und Ereignisse erklärt. Biographische Angaben zu den erwähnten Personen, ein Personen- und ein geographisches Register schließen die Edition ab. Insgesamt ist den Herausgebern eine umfangreiche Sammlung persönlicher Zeugnisse aus der höchsten Machtebene des Hetmanats gelungen, die allerdings für die Untersuchung von dessen inneren Widersprüchen besser geeignet ist als für die Ziele der Herausgeber. Das Vorwort kann zudem mittlerweile ebenfalls als zeitgeschichtliche Quelle angesehen werden.

Dimitri Tolkatsch, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Dimitri Tolkatsch über: Getman P. P. Skoropadskij. Ukraina na perelome. 1918 god. Sbornik dokumentov. Otv. red. i otv. sost. O. K. Ivancova. Moskva: Rosspėn, 2014. 1087 S., 15 Abb., Tab. ISBN: 978-5-8243-1852-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Tolkatsch_Ivancova_Getman_P_P_Skoropadskij.html (Datum des Seitenbesuchs)

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